wirtschaft und weiterbildung 10/2015 - page 19

wirtschaft + weiterbildung
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lich bald jeder ersetzbar sein wird, ist
diese Frage sinnlos. Geoff Colvin, Chef-
redakteur des „Fortune Magazine“ und
einer der angesehensten Journalisten
Amerikas, regt in seinem neuesten Buch
„Humans are underrated“ an, besser eine
ganz andere Frage zu stellen. Er ist über-
zeugt davon, dass Menschen aufgrund
tief sitzender Veranlagungen niemals
akzeptieren werden, dass ein Computer
ein Gerichtsverfahren leitet oder dass ein
Roboter ihnen mitteilt, dass sie an Krebs
erkrankt sind. Sein Rat lautet: Jeder sollte
sich eine Tätigkeit suchen, bei denen die
Menschen darauf bestehen, dass sie von
einem anderen Menschen ausgeführt
wird – egal, wie gut die Computer sind.
Wer kann zwischenmensch-
liche Bedürfnisse befriedigen?
Colvin spricht von einer „sozialen Not-
wendigkeit“, dass bestimmte Tätigkeiten
nur von Menschen ausgeführt werden.
Wir seien nun einmal soziale Wesen
und durch unsere evolutionäre Vergan-
genheit in der Savanne so „verdrahtet“,
dass wir „persönliche Beziehungen mit
Menschen“ automatisch mit „überleben
können“ gleichsetzten. „Wir wollen an-
deren Leuten Geschichten erzählen und
von ihnen Geschichten erzählt bekom-
men“, so der US-Journalist. Fazit: Da un-
sere Interaktionsfähigkeiten seit Urzeiten
im Kontakt mit anderen Menschen ent-
wickelt wurden, werden Roboter, selbst
wenn sie perfekt Emotionen ausdrücken
können, in bestimmten Bereichen nie
als Ersatz für einen Menschen akzeptiert
werden. Menschen wollen menschli-
chen Anführern folgen, selbst wenn ein
Computer wie Winston Churchill „Blut-
Schweiß-und-Tränen-Reden“ halten
könnte. Wir möchten unsere Krebsdia-
gnose von einem menschlichen Wesen
hören, auch wenn ein Computer sie er-
stellt hat. Wir möchten wichtige Verein-
barungen mit einer Person aushandeln,
ihr in ihre Augen schauen, jede Regung
in ihrer Stimme hören, wahrnehmen,
wann sie ihre Arme verschränkt.
Sicher ist, dass Programmierer und In-
genieure auf dem Arbeitsmarkt gefragte
Leute bleiben werden. Aber die wirklich
wichtigen und sehr gut bezahlten Be-
rufe der Zukunft werden Menschen be-
kommen, die zur Empathie fähig sind,
ist sich Colvin sicher. Denn Empathie ist
der gemeinsame Nenner aller Berufe, die
auch weiterhin den Menschen vorbehal-
ten bleiben werden. Empathisch zu sein
heißt im Berufsleben, dass man sich in
einen Kunden oder einen Kollegen hi-
neinversetzen, aus seiner Sicht mitden-
ken und eine Beziehung zu ihm aufbauen
kann. Man kann sein Gegenüber zu einer
Zusammenarbeit motivieren und gemein-
sam einen kreativen Prozess durchlau-
fen, an dessen Ende eine Problemlösung
steht. Und natürlich gehört auch noch
eine kulturelle Sensibilität dazu. Colvin:
„Empathie ist die entscheidende Fähigkeit
des 21. Jahrhunderts.“ Berufe, bei denen
die menschliche Interaktion im Mittel-
punkt steht, werden in der Zukunft noch
mehr gefragt sein als jetzt – quasi als
Gegenpool zu den überhandnehmenden
Robotern. Menschen, die früher in einer
Fabrik beschäftigt waren, sollten immer
nur wie eine Maschine funktionieren. In
Zukunft werden Menschen gebraucht,
die einfach nur „äußerst menschliche
Wesen“ sind.
Wie trainieren Unternehmen
die Empathie der Mitarbeiter?
Selbst Google, das nur die besten Infor-
matiker zu engagieren pflegt, legt zu-
sätzlich noch Wert darauf, dass Bewer-
ber sich auch im zwischenmenschlichen
Bereich vorbildlich verhalten. Wie Goo-
gle-Vorstand Eric Schmidt einmal aus-
plauderte, wird jeder Bewerber gefragt,
wie er „seine Muskeln spielen lassen
würde, um müde Teams zu aktivieren“.
Von Programmierern wird erwartet, dass
sie an der Zusammenarbeit mit anderen
interessiert sind und nicht nur im stillen
Kämmerlein vor sich hin brüten wollen.
Um die Zusammenarbeit der Mitarbeiter
weiter zu verbessern, entwickelte Google
ein cloudbasiertes Computerspiel. Die
Lerneinheiten, die in dieses Spiel einge-
bettet sind, dauern je nach Spieler zwi-
schen einem Monat und einem Jahr. Ein
wichtiger Bestandteil des Spiels ist das
Training der Zusammenarbeit mit Kolle-
gen. Ein Spieler erklärte, dass er zum er-
sten Mal gelernt habe, wie ein Kollege aus
einem anderen Team denkt und plant. Die
Gedanken und Gefühle anderer Personen
wahrzunehmen und angemessen zu re-
agieren, ist ein wesentlicher Bestandteil
von Empathie. Andere Vorreiter-Firmen
haben laut Colvin folgende Weiterbil-
R
Buchtipp.
Das Buch „Humans are under-
rated“ erschien im August 2015 bei
Penguin Random House in New York.
Geoff Colvin.
In den USA ist er ein bekann-
ter Journalist und Autor mit eigenen TV-
und Radio-Sendungen zur Wirtschaftslage.
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