personalmagazin 3/2019 - page 19

Organisationsstrukturen
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„Alle zehn bis fünfzehn Jahre wiederholt sich der Manage-
mentdiskurs über Organisationsmodelle.“ Zu dieser pragmati-
schen Feststellung kommt Stefan Kühl, Organisationssoziologe
an der Universität Bielefeld und Autor des Buchs über neue
Organisationsformen „Wenn die Affen den Zoo regieren“. Die
Ideen, Hierarchien abzubauen, Abteilungen aufzulösen oder
formale Strukturen insgesamt zurückzufahren, seien alles re-
aktivierte, ältere Managementideen, führte der Professor bei der
Herbsttagung der Schweizerischen Gesellschaft für Organisation
und Management (SGO) aus. Damit will Kühl beruhigen: „Die
Unternehmen sollten nicht allzu schnell glauben, dass sie eine
außergewöhnliche Phase des Wandels durchleben.“
Die disruptiven Zukunftsprognosen sieht er also gelassen und
nimmt damit einigen Beratern und hippen Managementgurus
den Wind aus den Segeln. In ein ähnliches Horn stößt Arbeits-
psychologe und Unternehmensberater Felix Frei: „Wenn alles
agil oder nachhaltig oder innovativ sein soll, wenn Manager bei
jeder Gelegenheit Disruption und Diversität heraufbeschwören,
wird jedem klar, dass hier nur Schaum geschlagen wird.“ Frei hat
gerade sein Buch „Böse Wörter“ veröffentlicht, in dem er einige
Management-Buzzwords von ihrer disruptiven Aura befreit.
Der Diskurs von gestern bleibt Vergangenheit
Dabei sagt Frei nicht der Agilität oder dem Hierarchieabbau den
Kampf an – im Gegenteil zeigt er die Notwendigkeit auf, diese
Modelle und Methoden zu nutzen. In einem Blogbeitrag beim
Schweizer Tagesanzeiger erklärt er: „Hierarchisch organisierte
Unternehmen sind voller Widersprüche. Chefs beklagen die
Unselbstständigkeit und Passivität der Mitarbeiter, entscheiden
aber viel zu viel selber und deuten diesen Umstand noch als
Indiz für ihre Unentbehrlichkeit.“ Und: „Organisationen, die es
ernst meinen mit dem Thema Eigenverantwortung, kommen
nicht umhin, die Hierarchie als führendes Organisationsprinzip
abzuschaffen. Das Schlimmste ist, innovative und unterneh-
merische Mitarbeiter zu suchen und sie dann wie unmündige
Kinder zu behandeln.“
Mit der Betonung der Mündigkeit der Mitarbeiter trifft Frei
einen entscheidenden Punkt, der die heutige Debatte um Hie-
rarchieabbau und Mitbestimmung von der vergangenen unter-
scheidet: Heute wollen die Unternehmenslenker die festen,
pyramidenförmigen Organisationsstrukturen nicht nur deswe-
gen umformen, weil sie sich davon unternehmerische Vorteile
erhoffen. Heute reagieren sie damit auf einen gesellschaftlichen
Wandel. Die (potenziellen) Mitarbeiter fordern mehr Transpa-
renz, mehr Mitbestimmung und mehr Eigenverantwortung. Und
sie finden sich nicht mehr mit einer Stellvertreterregelung über
den Betriebsrat ab. Wer heute die Organisationsstruktur anfasst,
muss sich an diesemWertewandel in der Gesellschaft und damit
an den Werten der Mitarbeiter orientieren. Schließlich ist ein
allein von oben angeordneter Hierarchieabbau an sich schon
ein Paradoxon, das nicht dauerhaft überleben kann.
Die aktuellen Experimente der Unternehmen
Was tun die Unternehmen also in der Praxis, um ihre Organi-
sationsmodelle auf eine Zeit anzupassen, die geprägt ist vom
ständigen Wandel, Digitalisierung und dem Wunsch nach Mit-
bestimmung? Wie stellen sie sich auf, um innovativ in die Zu-
kunft zu blicken? Die Praxisbeispiele, die wir Ihnen auf den
folgenden Seiten präsentieren, zeigen, wie Telekom, Volkswagen
und Braun-Melsungen vorgehen. Die Autoren stellen – teils sehr
persönlich – dar, welche Methoden sie anwenden und wie die
Mitarbeiter sich beteiligen.
Gemein ist allen Beispielen, dass es nicht die kleinen Start-ups
sind, die besonderes wendig hier etwas ausprobieren und dort
unkonventionelle Wege mit offenem Ziel gehen. Es sind etablier-
te Konzerne, die in einzelnen Abteilungen mit den Experimenten
beginnen und diese weiter ausbauen wollen. Und gemein ist ih-
nen auch, dass ihr jeweiliger Ausgangspunkt keine vorgefertigten
Konzepte enthält – vielmehr experimentieren die Unternehmen
mit verschiedenen Modellen, sodass sie passgenaue Lösungen
erhalten. Darunter finden sich Ansätze von Netzwerk- und So-
ziokratiemodellen. Auch das Konzept der plötzlich auftretenden
und später wieder zerfallenden „Flash Organisation“ zeigen wir
auf. Gerade in diesem Beispiel spiegelt sich auch wider, wie sehr
die Unternehmen inzwischen in Projektstrukturen arbeiten.
„Entweder oder“ wird ersetzt durch „und auch“
Wer solchen Mut zum Experiment sucht, blickt bislang häufig
ins Silicon Valley. Auch diese Perspektive hat die Redaktion für
Sie eingefangen – mit durchaus erstaunlichen Erkenntnissen:
Denn die Vorreiter von Übersee kehren teilweise zu ihren ur-
sprünglichen Strukturen zurück. Da ist von der Wiedereinfüh-
rung von Hierarchien die Rede und vom Performance Manage-
ment der alten Schule. Das könnte die zyklische Annahme von
Kühl nähren, ist aber eigentlich eine Bestätigung für die auf den
nächsten Seiten vorgestellten Unternehmen aus Deutschland:
Sie setzen nicht alles auf ein Modell in Reinform. Sie suchen sich
ihren „Best Way“ – da dürfen auch Hierarchien an den passenden
Stellen noch eine Rolle spielen.
Viele Unternehmen experimentieren mit ihren Organisations-
und Führungsstrukturen. Dabei gehen sie häufig mutig voran
und im Unterschied zur Vergangenheit gibt es kein einzelnes
Leitbild, an dem sich alle orientieren. Es gibt Ansätze zum
Netzwerk, zur Soziokratie und zur Renaissance der Hierarchie.
Die Organisation muss zur individuellen Situation des
Unternehmens passen.
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