Es gibt Neues zum Interview im Be-
werbungsprozess. Und dieses Neue ist
auf den ersten Blick geeignet, die Über-
zeugungen einiger Personaler bis in die
Grundfesten zu erschüttern. Bislang galt,
dass die Strukturierung des Interviews
der Qualitätsgarant schlechthin ist. Nun
wird diese Überzeugung von einigen
Forschern in Frage gestellt. Im Kern der
Kritik geht es – was ich hier nicht außen
vorlassen kann – um Statistik.
Die Erkenntnis, dass strukturierte In-
terviews zuverlässiger und aussagekräf-
tiger sind als unstrukturierte Interviews,
verdanken wir so genannten Metaana-
lysen. Das sind statistische Verfahren,
die es ermöglichen, die Flut von empiri-
schen Einzelstudien systematisch zusam-
menzufassen. Bei der Erstellung solcher
Analysen müssen viele Entscheidungen
darüber getroffen werden, wie man die
zu Grunde liegenden Daten verrechnet.
Dies gilt insbesondere für die Frage, wel-
che Korrekturen man an den Daten vor-
nimmt. Die Wissenschaftler In-Sue Oh,
Bennett E. Postlethwaite und Frank L.
Schmidt haben 2013 in einer Publikation
die Daten zur Gültigkeit von Interviews
reanalysiert und Korrekturen vorgenom-
men, die bislang nicht vorgenommen
wurden – insbesondere eine so genannte
„Korrektur gegen indirekte Varianzein-
schränkungen“. Für die so korrigierten
Daten gilt, dass unstrukturierte Inter-
views zumindest gleich gute, wenn nicht
gar aussagekräftigere Ergebnisse erzielen
als strukturierte Interviews.
Methodenspielerei oder ernst
zu nehmende Kritik?
Man kann diesen Befund als Methoden-
spielerei abtun und ignorieren. Meines
Erachtens tut es aber schon lange Not,
über die Qualität des Bewerberinterviews
nachzudenken. Dafür ist mir der Befund,
unabhängig von seiner Belastbarkeit, ein
willkommener Anlass. Denn beim Thema
„Interview“ ist es sicher nicht damit ge-
tan, dass man das Wort „strukturiert“ wie
eine Monstranz vor sich herträgt. Im Jahr
2014 haben Julia Levashina und Kollegen
in der angesehenen Zeitschrift „Person-
nel Psychology“ bereits ausgeführt, wie
viele bedeutsame Fragen rund um das
strukturierte Interview bislang ungeklärt
sind. Es ist dringend notwendig, dass
man hinterfragt, was man zu wissen ver-
meint. Ich werde zunächst eine Erklärung
Ein Angriff
auf das
Fundament
der Interview
technik
Die Verfechter strukturierter
Vorstellungsgespräche wollen
das am liebsten verschweigen:
Neue Analysen zeigen, dass
unstrukturierte Interviews besser
sein könnten als ihre strukturierten
Pendants. Wer nun erleichtert
aufatmet und wieder ein Loblied auf
das Bauchgefühl anstimmt, handelt
aber zu leichtfertig.
Von Prof. Dr. Martin Kersting
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personalmagazin 07.18
HR-Management