zu einem Gesamturteilt kommt. Wenn
mehrere Interviewer mit Wertungsfunk-
tion am Interview beteiligt sind, bedarf es
weiterer Vorab-Festlegung zur Integration
der Urteile über die Interviewer hinweg.
Die Vorbereitung mündet in der Er-
stellung des Interviewleitfadens und der
Bewertungshinweise. Das bedeutet aber
keinesfalls, dass man diesen Interview
leitfaden später sklavisch abarbeitet.
Während des Interviews darf man, frei
nach Nietzsche, die Ketten, in denen der
Dichter tanzt, nicht klirren hören.
Bewusstsein schaffen über
Fluch und Segen der Intuition
Im Interview wirken zahlreiche Einfluss-
faktoren, die sich dem Bewusstsein ent-
ziehen. Die Urteilsbildung, die aufgrund
eines Interviews stattfindet, bezeichnet
man als „soziale Kognition“. Wir schrei-
ben anderen Menschen Gedanken, Ge-
fühle, Eigenschaften und Weiteres zu. Für
diese Urteilsbildung spielen nicht nur die
im Interview ausgetauschten verbalen
Informationen eine Rolle, sondern auch
Vorinformationen, der erste Eindruck,
nonverbale Informationen, soziale Ver-
gleichsprozesse, Stereotypen und vieles
mehr. Interview-Verantwortliche müs-
sen sich über das Zusammenspiel von
Merkmalen (wie Alter, Geschlecht oder
Kultur) der Interviewer und Interviewten
im Klaren sein. Die Menge an Infos, die
wir in einem Interview erhalten, übertrifft
um ein Vielfaches die Anzahl an Infor-
mationen, die wir rational verarbeiten
können. Deshalb greifen wir auf Erfah-
rungswissen und automatisierte Prozesse
zurück. Praktiker sprechen von Intuition
oder vom Bauchgefühl, Wissenschaftler
von „Rapid Cognition“. Diese Abkürzun-
gen des Denkens können gleichermaßen
wertvoll wie problematisch sein. Die in-
tuitive Informationsverarbeitung erlaubt
es uns, blitzschnell auf Erfahrungen zu-
rückzugreifen. Aber auch die Abwertung
von Menschen aufgrund von Vorurteilen
ist ein intuitiver Prozess. Wichtig ist, die
Prozesse zu kennen und die Interview-
situation bewusst so zu gestalten, dass
die aufgrund des Interviews getroffenen
Entscheidungen nicht den eigenen Vor-
urteilen, sondern den eigenen Zielen
entsprechen.
Im Interview sollte man die Intuiti-
on um die Ratio ergänzen. So bietet es
sich beispielsweise an, im Vorfeld nicht
nur Fragen vorzubereiten, sondern auch
festzulegen, wie man Antworten bewer-
ten will. Man kann beispielsweise mit
so genannten „Behavior Anchored Ra-
ting Scales“ (BARS) konkrete Beispiele
für mögliche Antworten festlegen, die
man positiv, neutral oder negativ bewer-
ten würde. Diese „verhaltensverankerte
Skalierung“ ist nicht nur eine bewährte
Methode, um die Aussagekraft des In-
terviews zu steigern, sondern hilft auch
dabei, eigene Stereotype zu entdecken.
Bewerbern, gegen die man (unbewusste)
Vorurteile hat, stellt man in einem freien
Interview unbewusst besonders schwieri-
ge Fragen. Wenn dies nicht möglich ist,
da die Fragen des Interviews vorgegeben
sind, bewertet man unbewusst die Ant-
worten dieser Bewerber kritisch. Die Vor-
ab-Festlegung von Fragen und (beispiel-
hafter) Antworten hilft einem Interviewer
zu erkennen, dass das Bauchgefühl in
Opposition zu den Sachinformationen
steht. In Folge dessen kann man dieser
Diskrepanz nachgehen.
Impression Management: kein
großes Problem im Interview
Ein wichtiger Faktor im Interview ist das
sogenannte „Impression Management“.
Bewerber können im Interview verschie-
dene Taktiken einsetzen, um einen guten
Eindruck von sich zu hinterlassen. Das ist
nicht unbedingt problematisch, da die
Fähigkeit gut anzukommen auch für das
Berufsleben erfolgskritisch ist. Intervie-
wer sollten aber die Selbstdarstellungs
taktiken und ihre Effekte kennen.
Ob und in welchem Maß Bewerber Im-
pression Management betreiben, hängt
unter anderem von ihrer Persönlichkeit
ab sowie von der Situation, in der sie
das Interview führen (zum Beispiel wie
wichtig ihnen der Job ist). Die Intensi-
tät und Art der seitens der Interviewten
genutzten Selbstdarstellungstechniken
variieren je nach Interviewtechnik. Bei
biographieorientierten Fragen werden
vielleicht Misserfolge in der Biographie
verschwiegen, das Selbst wird aufgewer-
tet. Bei situativen Fragen werden die Ant-
worten vielleicht so formuliert, dass sie zu
den (vermeintlichen) Erwartungen und
Werten der Interviewer passen, man redet
dem Interviewer nach dem Mund.
„Gefakt“ wird so oder so, auch im
strukturierten Interview. Ein Vorteil des
strukturierten Interviews ist aber, dass
Wer jedoch
alle Regeln der
Strukturierung
im Interview
in den Müll
wirft, der
dokumentiert
nur, dass er mit
leeren Händen
dasteht.
PROF. DR. MARTIN KERSTING ist
Professor für Psychologische Diagnostik
an der Justus-Liebig-Universität Gießen
und zählt zu den vom Personalmaga-
zin ausgezeichneten „40 führenden
HR-Köpfen”. Als Vorsitzender des
Diagnostik- und Testkuratoriums (DTK)
der Föderation Deutscher Psychologen-
vereinigungen hält er die Fahne hoch für
wissenschaftlich gesicherte Personal-
auswahlverfahren – und kennt zahlreiche
Verfahren, die einer Prüfung nicht stand-
halten.
Foto: Peter Stone
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personalmagazin 07.18
HR-Management