Immobilienwirtschaft 2/2018 - page 67

67
0
2.2018
wird zur Tortur. Über den Stand der Dinge
bei der Bewerbung werden Jobkandidaten
im Unklaren gelassen. Der Hintergrund
dieser Verhältnisse: Als die E-Recruiting-
Prozesse in den 90erJahren entstanden,
war ihr Ziel, massenhafte Bewerbungen
kostengünstiger verarbeiten zu können.
Talentmärkte waren damals nicht kandi-
daten-, sondern arbeitgeberorientiert.
Das ist jedoch nicht mehr zeitgemäß.
In vielen Branchen, auch in der Immo-
bilienwirtschaft, suchen sich Kandidaten
heute ihre Arbeitgeber aus, nicht umge-
kehrt. Kandidaten haben in der digitalen
Welt mehr Macht und sind durch positive
Erfahrungen in ihrer Rolle als Online-
Kunden vorgeprägt. Daran müssen sich
die Prozesse orientieren. Die Ansprüche
der Arbeitnehmer an Bewerbungsver-
fahren sind gestiegen. Doch nur wenige
Unternehmen tragen dieser Entwicklung
Rechnung.
NEGATIVE ERFAHRUNGEN
57 Prozent der
Bewerber machen negative Erfahrungen
im Bewerbungsprozess und nur 29 Pro-
zent fühlen sich als Kunden behandelt,
wie die Studie „Bewerbungsverfahren und
Markenwahrnehmung – Wie Recruiting-
prozesse Marken beeinflussen“ von Esch.
The Brand Consultants und Softgarden
zeigt. Diese negativen Erfahrungen ha-
ben Folgen, wie die Recruitingplattform
Softgarden in einer Umfrage 2017 heraus-
gefunden hat. Für 43 Prozent der Kandi-
daten mit negativen Erfahrungen ist das
Unternehmen als Arbeitgeber nach der
Bewerbung erst einmal „gestorben“, 49
Prozent raten Bekannten und Freunden
von einer Bewerbung ab, und zehn Pro-
zent verfassen eine negative Bewertung
auf einem Arbeitgeberbewertungsportal.
Schauen wir uns den Aspekt der Be-
wertung noch einmal genauer an. Früher
wurde die Kaufentscheidung von Kun-
den von Print-, TV- und Radiowerbung
beeinflusst, ebenso wie von Ratschlägen
aus dem Bekannten- und Freundeskreis.
Eingekauft wurde lokal, der Verkäufer
oder die Verkäuferin nahm dann noch-
mals einen großen Einfluss auf die Kauf-
entscheidung der Kunden ein.
Und heute? Online-Shopping hat in
vielen Fällen das lokale Einkaufserlebnis
verdrängt. 66,4 Prozent der Deutschen
erkundigen sich laut einer aktuellen GfK-
Umfrage vor einer Kaufentscheidung nach
Daten im Netz. Bewertungen anderer
Konsumenten über ihre Erfahrungen mit
Produkten und Dienstleistern üben dabei
einen entscheidenden Einfluss auf Kauf-
und Entscheidungsprozesse aus.
Nutzergenerierte Inhalte und Social
Media sowie Bewertungsportale sind
heute Faktor eins für Kaufentscheidungen
oder die Entscheidung über die Nutzung
von Dienstleistungen. Diesen Auswahl-
prozess haben Bewerber in ihrer Rolle als
Online-Konsumenten gelernt. Die Bewer-
tung von Arbeitgebern durch Bewerber
undMitarbeiter spielt deshalb eine immer
größere Rolle bei der Wahl des nächsten
Jobs. Schon jetzt nutzen knapp die Hälfte
der Bewerber solche Plattformen, um sich
über Arbeitgeber zu informieren. Ihr An-
teil dürfte künftig zunehmen
FAZIT: ANDERES BEWERBERVERHALTEN
E-Commerce-Prozesse, -Erfahrungen
und -Kundengewohnheiten bestimmen
immer stärker die Erwartungshaltung von
Bewerbern. Denn diese bewegen sich seit
Langem in der digitalen Welt, ihr Verhal-
ten hat sich radikal geändert. Doch Ar-
beitgeber sind dieser Entwicklung noch
nicht gefolgt. Sie sind in der Personalge-
winnung noch zu analog.
Was ist zu tun? Personalgewinnungs-
prozesse sollten sich stärker als bislang am
E-Commerce orientieren, der es denKun-
den heute möglichst leicht macht, einen
Kauf zu tätigen.
SUMMARY
»
Nur jene Arbeitgeber behalten im verschärften Wettbewerb um die besten Köpfe die Nase vorn, die sich auf eine
neue
Generation von Bewerbern in der digitalen Welt
einstellen können.
»
Dieser Hintergrund wird derzeit
in der Immobilienbranche eher
vernachlässigt.
»
Bei der
Online-Bewerbung
läuft alles noch viel zu kompliziert ab.
»
Personalgewinnungsprozesse sollten sich deshalb
stärker als bislang am E-Commerce orientieren,
der es den Kunden heute möglichst leicht macht, einen Kauf zu tätigen.
Foto: Rawpixel.com /shutterstock.com
«
Mathias Heese, Berlin
DREI ASPEKTE SIND IM
PERSONALGEWINNUNGSPROZESS
BESONDERS WICHTIG:
1.
Bewerber sind Kunden:
Unterneh-
men sollten ihren gesamten Bewer-
bungsprozess und den Online-Auftritt
als Arbeitgeber durch die Kandida-
tenbrille betrachten und aus dieser
Perspektive optimieren. Genauso,
wie E-Commerce-Unternehmen ihre
Kaufprozesse anhand der „Customer
Journey“ fortwährend verbessern,
sollten das Arbeitgeber anhand der
„Candidate Journey“ machen.
2.
Geschwindigkeit zählt:
Arbeit-
geber sollten ihre Kandidaten nicht
warten lassen. Nur wenn Unternehmen
den passenden Bewerber eher im
Gespräch haben als die Wettbewer-
ber, können sie ihn rechtzeitig von
sich überzeugen. Der zentrale Hebel
dafür ist in vielen Fällen die nahtlose
Einbeziehung der Fachabteilungen
durch automatisierte Kandidatenbe-
wertungs- und Reminderprozesse. Die
Abstimmung zwischen Personal- und
Fachabteilung dauert oft noch zu lange.
Im Unterschied zu professionellen
Recruitern brauchen „Hiring Manager“
leicht handhabbare Prozesse, die auch
ohne intensive Einarbeitung funktionie-
ren – unterstützt möglichst auch mobil,
damit die längere Dienstreise des
künftigen Chefs keine Verzögerungen
im Recruitingprozess nach sich zieht.
Dadurch lassen sich Bewerbungszeiten
um weit über 50 Prozent verkürzen.
3.
Aktiv mit Feedback umgehen:
Unternehmen sollten Mitarbeiter- und
Bewerberfeedback nutzen, um ihr
Angebot und ihre Bewerbungspro-
zesse kontinuierlich zu verbessern,
und sie sollten die Bewertung des
Unternehmens als Arbeitgeber fördern.
Authentizität, Dialogbereitschaft und
Transparenz entscheiden künftig stärker
über den Erfolg als Arbeitgeber als
das Werbebudget für die klassischen
Personalmarketingwerbeflächen.
TIPP
1...,57,58,59,60,61,62,63,64,65,66 68,69,70,71,72,73,74,75,76
Powered by FlippingBook