DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 10/2017 - page 51

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10|2017
Integration
Erfahrungen der Leitstelle Zuwanderung
Den enormen Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland wie in den
Jahren 2015 und 2016 gibt es aktuell nicht mehr. Ist die sog. Flücht-
lingskrise jetzt also überwunden?
Nein, die Herausforderungen im Zusammenhang mit Flüchtlingen in
Deutschland sind nach wie vor enorm. Die Bezeichnung „Krise“ ist aber
tatsächlich nicht mehr angebracht, zumindest wenn es gemeinsam
gelingt, der Verantwortung gerecht zu werden. In diesem Fall kann die
Zuwanderung sogar eine Chance darstellen. Bei den im vdw Sachsen
Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft e.V. organisierten
Unternehmen hat sich diese Sichtweise recht schnell und früh etabliert.
Die Gründe dafür sind klar. Es waren vor allem die städtischen und
kommunalen Gesellschaften, die den Flüchtlingen nach der Erstaufnah-
me eine ansprechende und dezentrale Unterkunft gaben. Knapp 70.000
Asylsuchende wurden nach Angaben des sächsischen Innenministeri-
ums 2015 in Sachsen aufgenommen, im vorigen Jahr waren es immer
noch knapp 15.000 Menschen. Ein beträchtlicher Teil davon lebt in den
Wohnungen der Mitgliedsunternehmen des vdw Sachsen. Diese profi-
tieren von den kalkulierbaren, gesicherten Mieteinnahmen – sich nur
darauf zu konzentrieren, wäre aber zu kurz gedacht. Bereits im Januar
2015 erkannte der vdw Sachsen, dass Integration mehr bedeutet als
ein Dach über dem Kopf. Der Ansatz war deshalb, für die „Newcomer“
auch Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Mit der Entscheidung,
sich dieser Aufgabe zu stellen, wurde der vdw Sachsen Initiator des
Netzwerkes „Ankunft-Zukunft“ und setzte neue Maßstäbe.
Im Herbst 2016 wurden diese Bemühungen professionalisiert. Für
sächsische kleine und mittlere Unternehmen (KMU) gibt es seitdem
beim Verband eine zentrale Anlaufstelle für alle Fragen rund um Migra-
tion und Integration. Die Leitstelle Zuwanderung ist ein Projekt des vdw
Sachsen im IQ Netzwerk Sachsen und damit Teil des Förderprogramms
„Integration durch Qualifizierung (IQ)“. Sie hilft bei der nachhaltigen
Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Migrationshintergrund.
Kostenfreie Unterstützung erfahren die Unternehmen durch Beratung,
Vermittlung von Ansprechpartnern sowie passgenaue Schulungsange-
bote. Zur Sicherung regionaler Fachkräftebedarfe führt die Leitstelle
Zuwanderung IMPULS-Veranstaltungen durch, bei denen Unterneh-
men mit Unterstützungsangeboten persönlich in Austausch gebracht
werden. Das Ergebnis ist neben einem transparenten Überblick vor
allem eine strukturierte Zusammenarbeit. Zwei zusätzliche Mitarbeiter
wurden allein dafür in Vollzeit beim Verband angestellt.
Ermutigende Erfahrungen
Inzwischen lässt sich auch über Erfahrungen berichten, die Mut
machen. Positiv ist erst einmal zu nennen, dass es viele Unternehmen
in Sachsen gibt, die gern Flüchtlinge und Zugewanderte einstellen
würden. Das gilt nicht nur in den Metropolregionen, sondern auch im
ländlichen Raum. Eine IMPULS-Veranstaltung in der vogtländischen
Kleinstadt Reichenbach zeigte das nur zu deutlich. Natürlich gibt es
auch Vorbehalte, etwa in der Stammbelegschaft. Die Unternehmen,
die bereits auf Zugewanderte setzen, berichten aber davon, dass sich
dieses Misstrauen meist sehr schnell gibt, wenn man offen mit den Mit-
arbeitern spricht und wenn diese erst einmal mit den neuen Kollegen
zusammenarbeiten. Auch umgekehrt werden Dinge möglich, die wir
den Flüchtlingen zum Teil nicht zugetraut haben. So isst zwar ein Mus-
lim kein Schweinefleisch, es zu verarbeiten ist aber nicht zwingend ein
Ausschlusskriterium. Und auch die Pünktlichkeit, die als eine deutsche
Tugend gilt, lässt sich durchaus erfolgreich vermitteln.
Noch ist viel zu tun
Doch bis es tatsächlich zu einer erfolgreichen Anstellung kommen
kann, gibt es viel zu beachten – auch das zeigen die Erfahrungen der
Leitstelle. Das fängt beim Wohnen an. So ist es von Vorteil für den
sozialen Frieden im Wohnquartier, ganze Familien unterzubringen.
Unbegleitete und männliche Heranwachsende dagegen können eine
ungünstige Eigendynamik entwickeln. Deshalb wäre es besser, den
Nachzug von Familien rechtlich und praktisch zu erleichtern.
In diesem Zusammenhang ist auch die soziale Betreuung immanent. Sie
darf nicht allein den Kommunen, Jobcentern oder gar den Vermietern
überlassen werden, sondern muss von staatlicher Seite abgesichert
werden. Für das Zusammenleben von neuen und vorhandenen Mietern
sind präventive Kommunikation, kultursensibles Eingliederungsma-
nagement und interkulturelle Konfliktlösung sowie die Vernetzung mit
relevanten Akteuren von entscheidender Bedeutung.
Wenn es dann konkret um eine Anstellung geht, ist natürlich die
Sprache eine Grundvoraussetzung. Die Sprachförderung des Bundes
sollte daher für alle Zugewanderte gelten und nicht nur für eine abge-
grenzte Gruppe. Menschen aus EU-Ländern und Drittstaaten erhalten
derzeit eine durchgängige Sprachförderung nur nachrangig und unter
Auflagen. Geflüchtete, die nicht aus den „Top-5-Ländern“ kommen,
sind sogar von Integrationskursen generell ausgeschlossen. Der nächste
Schritt ist die Ausbildung. So ist es dringend notwendig, berufsvor-
bereitende Bildungsmaßnahmen ebenfalls für alle Zugewanderten zu
öffnen. Junge Menschen, die wieder nicht aus den „Top-5-Ländern“
kommen, dürfen die Förderung, um Schulabschluss und Ausbildungs-
verhältnis zu erreichen, erst nach sechs Jahren Aufenthalt beanspru-
chen. Damit wird wertvolle Zeit verschenkt. Des Weiteren muss die
aktuelle Positivliste für Mangelberufe erweitert oder wenigstens
regional an die Realität angepasst werden. In Sachsen werden z.B.
dringend Berufskraftfahrer und Lebensmittelhandwerker gesucht. Die
Unternehmen würden deshalb gern Bürger aus Drittstaaten anwerben.
Die erhalten jedoch kein Arbeitsvisum, da es sich nicht um offiziell
anerkannte Mangelberufe handelt.
ZWISCHENRUF
Alexander Müller
Referent Presse/Veranstaltungen
& Assistenz des Verbandsdirektors
vdw Sachsen Verband der Wohnungs-
und Immobilienwirtschaft e.V.
Dresden
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