Die Wohnungswirtschaft 7/2017 - page 11

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7|2017
Auch wenn in manchem Hinterkopf immer noch
ein altes Vorurteil der Wohnungs- und Immobi-
lienwirtschaft schlummert … Baukultur ist kein
zusätzliches Bonbon, das man sich leisten können
müsse. Richtig ist vielmehr: Baukultur bestimmt
die Qualität unseres Alltags. Sie schafft und si-
chert das, worüber wir uns in unseren Städten,
Dörfern und Landschaften freuen und womit wir
uns in unserer Heimat identifizieren – ihre Ein-
zigartigkeit, ihre gebaute, erlebbare Geschichte,
ihre Lebendigkeit und ihre Schönheit. Baukultur
bedeutet, eine gebaute Umwelt zu schaffen, die
auch in Zukunft als lebenswert empfunden wird,
und in der sich die Menschen wohlfühlen.
Diese Erkenntnis ist so banal wie schwierig um-
zusetzen. Sie muss in einer häufig gebrochenen
Wertschöpfungskette von der Projektentwicklung
bis zum Betrieb über alle Planungs-, Bau- und In-
vestitionsphasen zur Handlungsmaxime werden.
Und das gelingt umso besser, je mehr Synergien
und Allianzen zu gleichermaßen wichtigen Her-
ausforderungenmachbar sind. Eine dieser Heraus-
forderungen ist die Bezahlbarkeit – oder vielleicht
besser: die Finanzierbarkeit – von Wohnungsneu-
bau, aber auch von Umbaumaßnahmen.
Die Kostengruppe 100 mitdenken
Obwohl Expertengruppen zur Baukostensenkung
umfassende Studien vorgelegt haben, gilt immer
noch die Binsenweisheit, dass die Lage entschei-
dend für Werthaltigkeit ist. Die wesentlichen Kos-
tentreiber beim Bauen sind deshalb gerade heute
die Kostengruppe 100 und eingeschränkt 200, also
das Grundstück und dessen Erschließung. Hier lässt
sich durch Innenentwicklung, das Heben von Flä-
chenpotenzialen viel erreichen – für bezahlbares
Wohnen und gemischte, lebendige Quartiere glei-
chermaßen. Der Grenzwert höherer Dichte lässt
sich aber nicht durch einen geschossflächenma-
ximierenden Dreisatz erreichen. Wer glaubt, dass
jemehrWohnfläche auf demGrundstückmachbar,
desto geringer der Schichtwert beimQuadratme-
terpreis des Wohnens werde, macht einen Denk-
fehler. Zu hohe Dichten – möglicherweise sogar
in sozial segregierten Quartieren – verringern die
Lebensqualität der Städte.
Erst das kompensatorische und wertstabilisieren-
de Element von Baukultur kann hier zu Ausgleich
und Akzeptanz beitragen. Entscheidend sind da-
bei der kluge städtebauliche Entwurf, der gute
Nachbarschaften trotz großer Nähe ermöglicht,
und die Gestaltung des öffentlichen Raums durch
Grün- und Gemeinschaftsflächen. Und dort, wo
die Grundstückspreise in Mittel- und Kleinstädten
auch heute noch bezahlbar sind, lässt sich mit
Hilfe baukultureller Aufwertungen von Orts- und
Stadtzentren eine „neue Lage“ und damit eine
Zukunftsperspektive für Wohnen und Arbeiten
schaffen.
Kosteneinsparungen beim Ausbau machbar
Beim Planen und Bauen selbst lässt sich durch
einen flächeneffizienten Entwurf und eine res-
sourcenschonende Konstruktion bei der Kosten-
gruppe 300weitgehend kostenneutral viel für die
Gestaltqualität von Gebäuden erreichen. Wenn
dann zu Lasten des technischen Ausbaus Kosten-
einsparungen erfolgen, also innerhalb der im
Verhältnis und real überproportional wachsen-
den Kostengruppe 400, so ist das aus Sicht der
Baukultur häufig kein Problem. ImGegenteil: Less
is more. Und wenige, wertige Materialien sowie
eine unkomplizierte Handhabbarkeit im späteren
baulichen Betrieb helfen nicht nur den (Lebens­
zyklus-)Kosten, sondern auch der Baukultur.
Bleibt noch die Frage, wie wir mit der die Wohn-
kosten stabilisierenden „trägen Masse“ unseres
Wohnungsbestandes umgehen.
Eine neue Umbaukultur für den Bestand
Trotz Baubooms gehen etwa drei Viertel der In-
vestitionen in Deutschland in den Bestand, nur
ein Viertel in den Neubau. Auch hier ist Augen-
maß gefragt, um den Anforderungen einer stän-
dig zunehmenden, kostentreibenden Normierung
entschieden entgegenzutreten. Jede rein mecha-
nische Maßnahme der energetischen Sanierung
mit dicken Dämmpaketen ist fragwürdig und jedes
„Kaputtsanieren“ von Gebäuden aufgrund neuer
technischer Anforderungen ärgerlich. Wenn wir
sanieren, müssen wir nicht nur Gebäude, son-
dern die Stadt weiterbauen und im Sinne einer
neuen Umbaukultur - wo notwendig - nach dem
lateinischen Wortursprung „sanare“ heilen. Also
nicht nur dämmen, sondern Wohnfläche erwei-
tern, aufstocken, anbauen, Klimahüllen erwägen
oder denkmalwürdige und ortsbildprägende Ge-
bäude mit Augenmaß instandhalten und so in die
Zukunft führen. Jeder Umbau oder Neubau muss
eine Verbesserung bewirken, für sich und seinUm-
feld: Wenn wir uns diesen baukulturellen Leitsatz
zu eigen machen, können Aufwärtsspiralen einer
besseren Gestaltqualität unserer Städte und Ge-
meinden wirksam werden. Bezahlbares Wohnen
ist so gesehen ein Ergebnis guter Baukultur.
Baukultur
Bezahlbares Wohnen durch Baukultur
Gegenwärtig ist keine politische Debatte vorstellbar, bei der nicht vehement der Ruf nach viel
schnellem, bezahlbarem und natürlich qualitätsvollem Wohnungsneubau ertönt. Das letzte Attribut
wird manchmal leicht verzögert nachgeschoben und klingt nicht mehr ganz so kämpferisch. Ein oft
gehörtes Vorurteil lautet: „Hör mir auf mit Baukultur, es ist so schon teuer genug“. Doch diese
Annahme war schon immer falsch und ist es heute umso mehr.
Reiner Nagel
Vorstandsvorsitzender
Bundesstiftung Baukultur
Potsdam
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