DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 05/2015 - page 35

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5|2015
Was heißt „_ready“ eigentlich? Wozu braucht
man denn einen neuen Begriff für senioren-
gerechte Ausstattung, es gibt doch bereits
die Norm Barrierefreiheit?
Altengerecht ist mehr als nur „barrierefrei“. Die
Normkann zwar zu einemgroßen Teil angewendet
werden. Aber es gibt weitere wichtige Bereiche:
Komfort und Sicherheit. Relevant sind ja z. B. auch
ein großer Balkon, niedrige Fenster mit Sonnen-
schutz, ein bequemzu begehendes Treppenhaus ...
Dementsprechend heißt „_ready“ vorbereitet für
altengerechtes Wohnen. Es ist die Antwort darauf,
wie eineWohnung optimal altengerecht angepasst
werden kann. Entscheidend ist, dass bereits eine
ganz normale Familienwohnung altengerecht
vorbereitet sein kann. Aber eben nur vorberei-
tet, „_ready“ also! Die individuelle Anpassung
erfolgt erst im konkreten Bedarfsfall. Das ist ein
bisschenwie beimAuto, das für den hoffentlich nie
eintretenden Unfall vorbereitet ist, eine gewisse
Sicherheitsarchitektur und Technikausstattung
aufweist. Wir haben sozusagen den Airbag für die
Wohnung entwickelt.
Seniorengerecht, barrierearm, altengerecht.
Ist das immer noch nicht irgendwo genau
festgelegt?
Nein, dafür gibt es leider keine verbindliche Fest-
legung. Auch keine Norm. Wir haben versucht, den
Begriff „altengerecht“ bestmöglich zu definieren –
und fünf Grundregeln aufgestellt (siehe S. 32).
Warum gibt es die drei Stufen ready-basic,
-standard, -comfort? Wäre da nicht eine
allgemeine Festlegung besser?
Das hängt wie so oft von den finanziellen Mög-
lichkeiten des Einzelnen ab. So wie bei der Woh-
nungsgröße auch. Aber nicht jeder kann sich
eine große Wohnung leisten. Deshalb haben wir
versucht, den Mindeststandard (ready basic) zu
entwickeln. Empfehlenswert wäre das mittlere
„ready standard“. Wenn man sich viel wünschen
könnte, die Stufe „ready comfort“...
Alles schön und gut – aber es mangelt doch
eher an der Akzeptanz der potenziellen Nut-
zer. Man ist vielleicht Mitte 40 oder Ende 50,
fit, zufrieden und wohnt mit Partner(in)
oder Familie in einem schönen Altbau: Wozu
braucht man dann eine „Alten“-Wohnung?
Und wenn ich alt bin, suche ich mir einfach
etwas Passendes! Warum soll man denn jetzt
schon damit anfangen ...?
Das ist von Ihrem Gesundheitszustand bzw. dem
Ihrer Familie und dem Ihrer Gäste abhängig. Es
kann sein und ist sogar sehr wahrscheinlich, dass
Sie ohne Probleme in der jetzigen „Normalwoh-
nung“ bis zum Lebensende wohnen können. Aber
richtig in die Zukunft gedacht ist das nicht. Denn
wenn es in zehn oder 25 Jahren doch passiert, dass
einer von Ihnen nicht mehr so fit ist, brauchen
Sie eine altengerechte Wohnung. Überlegen Sie
doch selbst: Umziehen möchten Sie dann nicht
mehr, umbauen auch nicht mehr. Dann beginnt Ihr
Problem. Zudem: Wenn Sie alt sind, gibt es – wenn
nicht umgesteuert wird – nichts Passendes mehr!
Schon jetzt gibt es viel zu wenige altengerechte
Wohnungen. Und die geburtenstarken Jahrgänge,
die in Rente gehen, kommen erst noch. Na, zwickt
es nicht schon jetzt ...
In Wohnungsgrundrissen sieht man immer
wieder Badewannen, ist das denn altenge-
recht?
Altengerecht heißt ja eben nicht zwingend roll-
stuhlgerecht. Unsere Idee ist die Vorbereitung.
D. h. so zu planen, dass im Falle des Falles die
Familienwohnung mit Badewanne ruckzuck rol-
lator- oder rollstuhlgerecht umgebaut werden
kann – und sie später im Bedarfsfall auch wieder
familiengerecht zurückgebaut werden kann.
Und was kostet das dann?
Das richtet sich nach dem Umfang der Vorberei-
tung. Wir haben dafür die Stufen „ready basic“,
„ready standard“ und „ready comfort“ einge-
führt. Unser großes Anliegen ist es, die Investi-
tionskosten so gering wie möglich zu halten. Das
ist am einfachsten im Neubau umzusetzen. Im
Mindeststandard „basic“ liegen die Mehrkosten
bei wenigen Prozent der Baukosten. Die genau-
en Standards sind unter
nachzulesen.
Und wie schaffen Sie Akzeptanz bei Eigentü-
mern, Bauherren und Investoren?
Der Kostenaspekt ist ein entscheidender. Wir bli-
cken natürlich aus dem Blickwinkel, das Wohnen
im Alter im Allgemeinen preiswerter zu machen,
mit möglichst geringen Kosten möglichst viele
Wohnungen „Alten-ready“ zumachen. Aus diesem
Grund hat das BMUB und die Zukunftinitiative Bau
das Projekt auch beauftragt. Wohnungseigentü-
mer, die die Wohnungen oder Immobilien nicht
selbst nutzen, sollten schon aufgrund der besseren
Vermarktbarkeit an einer entsprechenden einfa-
chen Anpassbarkeit interessiert sein.
Hinzu kommt: Die gewählte Begrifflichkeit ist
nicht stigmatisierend. Alten- oder behinderten-
gerecht werden mitunter so empfunden.
Vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Olaf Berger.
Interview mit Prof. Dr. Thomas Jocher
„Wir haben den Airbag für Wohnungen entwickelt“
Das Forschungsprojekt „_ready“ erarbeitete, wie mit einfachen Mitteln Wohnun-
gen altengerecht angepasst werden können. Kerngedanke ist, ausgehend von ei-
nem Mindeststandard, verschiedene, auf die jeweiligen Bedürfnisse und Bedarfe
ausgerichtete Standards zu kreieren – und altengerechtes Wohnen schon unter-
halb der Schwelle „barrierefrei nach DIN“ zu ermöglichen. Projektleiter Prof. Dr.
Thomas Jocher vom IWE der Universität Stuttgart erklärt das Wie und Warum.
Quelle: Architekturbüro Fink+JJocher, Foto: Boris Miklautsch
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