Immobilienwirtschaft 12-1/2016 - page 16

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MARKT & POLITIK
I
FLÜCHTLINGSPROBLEMATIK
genheit die Grundlage, um Immobilien
zur Unterbringung von Obdachlosen zu
beschlagnahmen. Das Land Berlin hat zu-
dem bis Ende Oktober – ebenfalls ohne
neues Gesetz – sieben Gewerbeimmobi-
lien beschlagnahmt, umdarin Flüchtlinge
unterzubringen oder (wie im Fall der ehe-
maligen Landesbank-Zentrale in der Bun-
desallee) zu registrieren.
Eine Beschlagnahme ist dabei nicht
mit einer Enteignung zu verwechseln.
Vielmehr handelt es sich um eine zeitlich
begrenzte zwangsweise Nutzung gegen
eine angemessene Entschädigung. Der Ei-
gentümer bleibt also – auch wenn er nicht
mehr frei über seine Immobilie verfügen
kann – Eigentümer.
Trotzdem lehnenVertreter der Immo-
bilienwirtschaft solche Zwangsmaßnah-
men vehement ab. Die Wohnungswirt-
schaft sei sich ihrer Verantwortung in der
Flüchtlingsfrage bewusst, betont beispiels-
weise Sönke Struck, Vorsitzender des Lan-
desverbands Nord des Bundesverbandes
Freier Immobilien- undWohnungsunter-
nehmen (BFW). „Wenn allerdings unsere
Immobilien beschlagnahmt werden, ruft
das natürlich Gegenwehr hervor“, sagt
Struck. „Damit wirkt diese Maßnahme
schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv.“
Auch Alexander Wiech, Pressespre-
cher von Haus & Grund, wendet sich ge-
gen Zwangsmittel und befürwortet statt-
dessen freiwillige Maßnahmen. Dabei
verweist er auf Vereinbarungen zwischen
örtlichen Vereinen von Haus & Grund
und Kommunen zur Unterbringung von
Flüchtlingen, wie sie beispielsweise inKas-
sel geschlossen worden sind.
URTEIL GEGEN BESCHLAGNAHME
Ohne-
hin müssen die Behörden für eine Be-
schlagnahme hohe Hürden überwinden.
Insbesondere darf die Sicherstellung nur
die letzte Maßnahme (ultima ratio) sein.
Wenn die öffentliche Hand also noch
über eigene Immobilien verfügt, die zur
Unterbringung von Schutzsuchenden ge-
eignet sind, muss sie zuerst diese Poten-
ziale aktivieren, ehe sie private Gebäude
in den Blick nimmt. Zudem müssen die
beschlagnahmten Immobilien leer stehen,
und die Beschlagnahme muss zeitlich be-
grenzt sein.
Bemerkenswert ist in diesem Zusam-
menhang ein Urteil des Verwaltungsge-
richts Lüneburg vom9. Oktober 2015 (Az:
5 B 98/15), das die Beschlagnahme des
ehemaligen Kinderheims Lüneburg-Wil-
schenbruch für rechtswidrig erklärt. Der
Eigentümer könne nur unter den engen
Voraussetzungen eines polizeilichen Not-
stands und als letztes Mittel zur Flücht-
lingsunterbringung verpflichtet werden,
betonen die Richter. Die Stadt habe es
aber versäumt, zu prüfen, ob Flüchtlinge
auch in der Lüneburger Jugendherberge,
in Ferienwohnungen oder in Hotels un-
tergebracht werden könnten.
Eine Massenerscheinung sind Be-
schlagnahmen bisher ohnehin nicht. Dem
BFW jedenfalls ist kein Mitgliedsunter-
nehmen bekannt, das von der Beschlag-
nahme einer Gewerbe- oderWohnimmo-
bilie betroffen ist. Dies erklärt eine Spre-
cherin des BFW damit, dass „ein Großteil
der Objekte in der Hand unserer Mitglie-
der voll vermietet ist und schon von daher
nicht zur Disposition steht“. Auch Haus
& Grund sowie der Immobilienverband
Deutschland (IVD) können keine von
Zwangsmaßnahmen betroffenen Mitglie-
der nennen.
Sollte es trotzdem zu einer Beschlag-
nahme kommen, so empfehlen Juristen
den betroffenen Eigentümern einige kon-
krete Maßnahmen. So ist es zum Beispiel
wichtig, die Gebäudeversicherung zu in-
formieren, die Zählerstände aufzunehmen
und den Zustand der Immobilie genau zu
erfassen, um später allfällige Schadener-
satzansprüche geltendmachen zu können.
Vor allem aber raten Experten, die Frage
der Verkehrssicherungspflicht zu regeln
und nach Möglichkeit darauf zu drängen,
die Beschlagnahmeverfügung so zu for-
mulieren, dass die Behörde die Verkehrs-
sicherungspflicht übernimmt.
SONDERFALL EIGENBEDARFSKÜNDIGUNG
Großes Aufsehen in der Öffentlichkeit
erregten darüber hinaus Fälle, in denen
kommunale Wohnungsbaugesellschaften
Mietern mit dem Argument kündigten,
Platz für Flüchtlinge zu benötigen. Medi-
enberichten zufolge kam es beispielswei-
se in Mechernich und Nieheim (beide in
Nordrhein-Westfalen) zu solchen Fällen.
Sehr viel mehr solcher Vorkommnisse
gibt es nach Einschätzung von Ulrich
Ropertz, Geschäftsführer des Deutschen
Mieterbundes, nicht: Er schätzt die ent-
sprechende Zahl bis Ende Oktober bun-
desweit auf höchstens zehn.
Rechtlich stehen diese Kündigungen
nach Einschätzung von Ropertz auf töner-
nen Füßen. „Weder eine Kommune noch
eine kommunale Gesellschaft können
Eigenbedarf anmelden“, argumentiert er.
Auch ein sonstiges „berechtigtes Interes-
se“, wie es §573 BGB festhält, sei nicht ge-
geben, sofern ein Mieter durch einen an-
deren ersetzt werde. Vor allem aber hält es
Ropertz für „politisch katastrophal“, wenn
ein städtisches Wohnungsunternehmen
Mietern kündigt, um in der Wohnung
Flüchtlinge unterzubringen. „Das konter-
kariert alles, was wir an positiver Grund-
stimmung noch haben, und setzt den so-
zialen Frieden aufs Spiel.“
Doch was passiert, wenn der Flücht-
lingsandrang weiter anhält? Könnten
dann in letzter Konsequenz private Ei-
gentümer auch enteignet werden? Ju-
risten winken ab: Dafür bräuchte es eine
gesetzliche Grundlage, die derzeit nicht
gegeben sei.
«
Christian Hunziker, Berlin
„Wenn Immobilien
beschlagnahmt werden,
ruft das natürlich Ge-
genwehr hervor. Damit
wirkt diese Maßnahme
kontraproduktiv.“
Sönke Struck,
Vorsitzender des
Landesverbands Nord des BFW
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