Wirtschaft und Weiterbildung 1/2018 - page 64

grundls grundgesetz
Boris Grundl
64
wirtschaft + weiterbildung
01_2018
Wir werden mental immer kränker. Aus dem BKK
Gesundheitsreport 2016 ist zu entnehmen: „Trotz
rückläufiger Krankenstände in den letzten Jahren
wächst der relative Anteil psychischer Erkrankungen
am Arbeitsunfähigkeitsgeschehen. Er kletterte
in den vergangenen 40 Jahren von zwei Prozent
auf 15,1 Prozent. Die durch psychische Krank-
heiten ausgelösten Krankheitstage haben sich in
diesem Zeitraum verfünffacht.“ Mittlerweile sind
psychische Probleme der häufigste Grund für Früh-
berentungen. Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin belaufen sich die Krankheits-
kosten auf 16 Milliarden Euro pro Jahr. Soweit die
Fakten.
Was hat sich in den letzten Jahren so dramatisch
verändert, dass solch ein katastrophales Ergebnis
zustande kommt? In Summe geht es um drei ent-
scheidende Veränderungen. Die extreme Zunahme
an Tempo, Transparenz und Komplexität in unserem
Leben. Das alles zerrt an uns: an unseren Nerven,
unseren Beziehungen, unserer Gesundheit. Das
Interessante dabei ist: Diese Veränderungen erklä-
ren primär die Entstehung und die Entwicklung der
mentalen Überforderung. Doch die mentale Unter-
forderung (und damit das Erleben von Sinnlosigkeit)
nimmt ebenfalls zu. Wie passt das zusammen? Las-
sen Sie uns den Blickwinkel wechseln.
Was sind die tatsächlich positiven Aspekte dieser
Veränderungen? Was können wir für uns daraus
lernen und wie vielleicht sogar davon profitieren?
Überbelastung und Unterbelastung lassen sich mit
zu viel und zu wenig Verantwortung erfassen. Wer
sich selbst permanent überfordert oder überfordern
lässt, leidet an einer Illusion der eigenen Überlegen-
heit und Stärke. Ein Schöpferwahn. Und wer sich
längere Zeit selbst unterfordert oder unterfordern
lässt, leidet an einer Illusion der eigenen Unterle-
genheit. Ein Opferwahn. Aus meiner Sicht geht es
hier darum, bildlich gesprochen, ob wir zu viel oder
zu wenig tragen. Also gibt es dazwischen einen
Korridor der passenden, klugen Verant-
wortung. Um den geht es. Es geht darum,
diesen Korridor zu erkennen und zu leben.
Das scheint eine Kunst zu sein, die nicht
jedem gelingt.
In den Unternehmen ergibt sich zukünftig
daraus die Notwendigkeit, Verantwortung klug zu
verteilen: 50 Prozent liegen beim Ermöglichen pas-
sender Verantwortungsübernahme (Unternehmen
und Führungskräfte), die anderen 50 Prozent beim
Willen zur Verantwortungserfüllung (Individuum).
Also müssen Unternehmen lernen, wie sie klug mit
Verantwortung umgehen und diese fordern – wie
sie „gesunde Verantwortungsentwicklung“ ermög-
lichen. Doch das Thema „Verantwortung“ spielt in
der Entwicklung von Führungskräften bis jetzt keine
zentrale Rolle. Auf der anderen Seite muss das Indi-
viduum lernen, wo es wirklich hingehört. Denn nur
dort, wo wir unsere Talente zu Stärken entwickeln,
werden wir die geforderten Spitzenergebnisse kon-
stant liefern können.
Wer seine Stärken entwickelt, muss genauso seine
Schwächen kennen und Lösungen dafür suchen.
Dazu bedarf es der Hilfe anderer, die dort Stärken
haben, wo unsere Schwächen liegen. So entsteht
Teamfähigkeit. Auf dem Weg dahin müssen wir
bewusst eine weitere Illusion überwinden – die
der Selbstgenügsamkeit. Wir Menschen brauchen
einander. Um voneinander zu lernen, um uns anei-
nander zu reiben und um miteinander zu wachsen.
Paragraf 61
Gehe klug mit
Verantwortung um
Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden.
Er gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein jüngstes Buch heißt „Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ (Econ
Verlag, Oktober 2017). Boris Grundl zeigt, wie wir uns von oberflächlichem Schwarz-weiß-Denken verabschieden. Wie wir lernen, klug hinzuhören, differenzierter zu
bewerten, die Perspektiven zu wechseln und unsere Sicht zu erweitern.
Wer sich selbst permanent über-
fordert, leidet an einer Illusion der
eigenen Stärke. Ein Schöpferwahn.
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