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wirtschaft + weiterbildung
05_2015
titelthema
R
Bonn). Ob das alles auf Defizite in der Di-
daktik zurückzuführen ist, muss bezwei-
felt werden. Ein Geschäftsführer einer
Firma erklärte kürzlich, er habe in guter
Absicht den Zugang zu einem Online-Bil-
dungsanbieter für seine Führungskräfte
freigeschaltet. Der Bildungsanbieter wirbt
damit, beste Business-Videotrainings und
hochwertige Schulungsfilme anzubieten.
Doch – so die Erfahrung des Geschäfts-
führers – der einzige, der die Video-Lekti-
onen genutzt habe, sei er selbst gewesen.
Wasser auf die Mühlen der
gestressten Fünrungskräfte
Eine der schon seit zig Jahren bekannten
Kernaufgaben der Führungskräfte ist es,
als oberste Personalentwickler im Unter-
nehmen zu fungieren. Ihre Rolle für den
Lerntransfer ist in wissenschaftlichen
Studien unbestritten. Vorgesetzte können
über Anerkennung, Belohnung, Ermuti-
gung, Feedback, Unterstützung beim Aus-
tausch über das neu Gelernte den Erfolg
der Trainingsteilnehmer unterstützen.
Doch dieses Wissen stößt in der Praxis
auf taube Ohren. Und nun verspricht das
Online-Lernangebot genau das, was der
Chef hören will: Stelle dem Mitarbeiter
ein geeignetes Content- und Lernmanage-
mentsystem zur Verfügung und er wird
sich eigenverantwortlich stets fit für die
beruflichen Anforderungen halten. Das
ist Wasser auf die Mühlen eines gestress-
ten Vorgesetzten, der hüfttief im opera-
tiven Tagesgeschäft steckt. Da stellt man
dem Mitarbeiter auch gerne einen Tablet
PC zur Verfügung, damit er jederzeit und
an jedem Ort, ganz nach seinem Bedarf,
lernen kann.
Echte Entwicklung, Veränderung und Ler-
nen funktioniert so nicht! Es existieren
einfach zu wenige motivierte und selbst-
gesteuerte Lerner. Davon gibt es unter
den Beschäftigten eines Unternehmens
aber höchstens 20 Prozent. Die anderen
benötigen Unterstützung – also einen
Menschen und kein technisches Sys-
tem, was man wegklicken oder ignorie-
ren kann, wenn man keine Zeit hat. Die
Versprechen der Online-Lern-Industrie
sind am Ende wie Opium für’s Volk: Hal-
luzinationen im Dienst der vermeintlich
guten Sache. Man fühlt sich gut, aber es
bringt nichts.
Halten wir nochmal fest: Hinter der
70-20-10-Formel steht die unausgespro-
chene Annahme, dass alle erwachsenen
Mitarbeiter eines Unternehmens moti-
vierte und selbstgesteuerte Lerner sind.
Sie besorgen sich selbstverantwortlich
das nötige Wissen. Machen wir es kurz:
Das ist eine Lüge. Menschen sind längst
nicht alle so. Das hat schon der Urvater
der 70-20-10-Regel, Allen Tough, Anfang
der 1970iger erkannt. Und so beschreibt
er auch gleich 21 psychologische Charak-
teristiken, die einen Menschen beeinflus-
sen und festlegen, wie viel Zeit jemand
für das Lernen investiert.
Dazu zählen Aspekte wie das geistige Ni-
veau, der Energielevel, die Fähigkeit zum
zukunftsorientierten Handeln, die Wich-
tigkeit der persönlichen Entwicklung, die
Klarheit von Zielen, die Leistungsmotiva-
tion, die Neugier und der Grad der Selbst-
reflexion. Nach seinen Studien verbringt
der durchschnittliche Erwachsene etwa
700 Stunden im Jahr mit Lernbemü-
hungen. Die „High Learners“ verbringen
dagegen rund 2.000 Stunden im Jahr mit
15 bis 20 verschiedenen Lernprojekten.
Lernen ist für sie zentrale Aktivität. Und
„Die 70-20-10-Bildungsformel verklärt die Realität“
1.
Durch die Digitalisierung ist die 20 Jahre alte
70-20-10-Bildungsformel plötzlich wieder aufgetaucht.
Lernen on Demand verspricht nicht nur „Lernstoff pas-
send zum aktuellen Bedarf“, sondern hilft auch Reise- und
Arbeitsausfallkosten zu sparen. Es wird aber eines überse-
hen: Damit dies funktioniert, braucht es einen selbstver-
antwortlichen, selbstgesteuerten, lernwilligen, motivierten
und transferstarken Mitarbeiter im Unternehmen.
2.
Am selbstgesteuerten Lerner aber fehlt es: Die „wahre“
Formel müsste lauten: 20-30-30-20. Gemeint ist damit die
Verteilung von lernstarken und veränderungsstarken Men-
schen in den Unternehmen. Da gib es nur etwa 20 Prozent
Top-Lerner. 30 Prozent könnte man recht leicht auf dieses
Niveau bringen, aber schon bei den nächsten 30 Prozent
braucht es viel Begleitung, Zeit-, Arbeits- und Geldeinsatz,
um Lernziele zu erreichen. Und bei den restlichen 20 Pro-
zent ist eher „Hopfen und Malz verloren“.
Zusammenfassung.
Vor knapp 20 Jahren erblickte die 70-20-10-Bildungsformel das Licht der Welt.
Die Kritk an dieser Formel lässt sich so zusammenfassen:
3.
Dieser Sachverhalt wird ausgeblendet. Denn die
70-20-10-Formel ist in Verbindung mit der Digitalisierung
ein attraktives Geschäftsfeld. Und die sirenenhafte Verhei-
ßung lautet: Online-Lernen ist die perfekte Antwort auf die
aktuellen Herausforderungen von Zeit-, Globalisierungs-
und Kostendruck. Das Problem ist nur: Die Versprechen
der Online-Lern-Industrie sind am Ende wie „Opium für‘s
Volk“ – Halluzinationen im Dienst der vermeintlich guten
Sache. Man fühlt sich gut, aber es bringt nichts.
4.
Richtig wäre es, den Trend der Individualisierung wirklich
ernst zu nehmen. Da der Mehrheit der Menschen eine gut
ausgeprägte Selbstlernkompetenz fehlt, gilt es für diese
Lerner genau passende Lernprozesse zu schaffen. Und
dazu braucht es Menschen als Begleiter und nicht Tech-
nik. Das pädagogische Know-how dazu ist da. Doch die
70-20-10-Formel vernebelt diesen Sachverhalt.
Axel Koch