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AUS DEN VERBÄNDEN
deutet an, dass aus allen Landesteilen ein-
zelne Personen wie Vögel aufsteigen, einen
Schwarm bilden und dieser sich in ausge-
wählten Schwarmstädten niederlässt“,
erklärte Prof. Dr.
Harald Simons
, Vorstand
der empirica AG.
Schwarmstädte und Wachstumsstädte
im Freistaat Sachsen
Insgesamt existieren in Sachsen vier
Schwarmstädte: Leipzig, Dresden, Freiberg
und Chemnitz, die von 2009 bis 2014 eine
Kohortenwachstumsrate von mehr als 200
nachwiesen. Neben den Schwarmstädten
gewinnen weitere neun Gemeinden mit
mehr als 20.000 Einwohnern durch das
Schwarmverhalten Einwohner hinzu. Dies
sind zum einen Gemeinden im direkten
Umland von Dresden und Leipzig – Freital,
Radebeul undMarkkleeberg –, die als Erwei-
terung der Schwarmstädte angesehen wer-
den können. Zum anderen sind dies Mei-
ßen, Görlitz, Plauen, Pirna, Glauchau und
Zwickau, bei denen grundsätzlich von einer
eigenen Anziehungskraft gegenüber ihrem
eigenen Hinterland auszugehen ist. Elf der
24 Städte mit mehr als 20.000 Einwoh-
nern verlieren dagegen Einwohner durch
Wanderungen. In Döbeln, Bautzen, Zittau,
Coswig und Delitzsch ist der Verlust noch
moderat. Annaberg-Buchholz, Werdau
und Limbach-Oberfrohna verlieren schon
deutlich stärker Einwohner. Sehr stark ver-
lieren die Städte Riesa und Grimma. Die
Stadt Hoyerswerda kann aufgrund einer
Kohortenwachstumsrate von nur 39 – das
heißt von 100 dort aufgewachsenen Perso-
nen werden 61 die Stadt im Saldo verlas-
sen – möglicherweise zu einer Gruppe von
Gemeinden gehören, bei denen von einer
Fluchtwanderung ausgegangen werden
kann. In der Gemeindegrößenklasse bis
20.000 Einwohner haben Rötha, Taucha,
Heidenau, Wülknitz, Schneeberg, Groß-
schweidnitz, Radeberg, Schkeuditz, Krei-
scha, Glaubitz, Aue, Zwenkau, Arnsdorf,
Weinböhla und Borsdorf eine Kohorten-
wachstumsrate von über 100. Allerdings
sind von diesen Gemeinden neun im direk-
ten Umland von Leipzig oder Dresden, wei-
tere drei beherbergen besondere Einrich-
tungen, beispielsweise eine medizinische
Versorgungseinrichtung von überregionaler
Bedeutung und eine Erstaufnahmeeinrich-
tung für Asylbewerber.
„Versteckte Perlen“
Das Schwarmverhalten führt zu einer Kon-
zentration der Einwohner in Schwarmstäd-
ten und zu einem Rückgang der Einwoh-
ner in anderen Städten und Regionen. Der
Wanderungsverlust bildet sich dabei aus
einer Summe verschiedener Wanderungs-
ströme. Dabei existieren Gemeinden, die
auf der einen Seite zwar Einwohner gewin-
nen, dieser Gewinn aber nicht ausreicht,
um die Wanderungsverluste gegenüber
den Schwarmstädten auszugleichen. Diese
Gruppe wird „Verstecke Perlen“ genannt.
Während die Schwarmstädte praktisch
gegenüber allen Städten und Gemeinden
an Einwohnern hinzugewinnen, gewin-
nen die Wachstumsstädte und „Versteck-
ten Perlen“ gegenüber einer Vielzahl an
ausblutenden Städten und Gemeinden
Einwohner, verlieren aber an die Schwarm-
städte. Bei Wachstumsstädten ist der Saldo
derzeit positiv, bei „Versteckten Perlen“
hingegen negativ. Zu den „Versteckten Per-
len“ als Kristallisationspunkte in den aus-
blutenden Regionen zählen die elf Gemein-
den Borna, Döbeln, Stollberg/Erzgebirge,
Bautzen, Markranstädt, Eilenburg, Wurzen,
Hohenstein-Ernstthal, Mittweida, Delitzsch
und Bischofswerda.
Schrumpfungsregionen und ausblu-
tende Gemeinden
Zu den Verlierern des Schwarmverhaltens
zählen insgesamt 391 Gemeinden mit ins-
gesamt rund 1,9 Millionen Einwohnern,
die praktisch in alle Richtungen Einwohner
verlieren. In diesen Schrumpfungsregionen
wohnen derzeit 48 Prozent der Einwohner
Sachsens. Verlierer sind mit der Ausnahme
der Suburbanisierungsgemeinden um Leip-
zig und Dresden sämtliche Gemeinden mit
weniger als 10.000 Einwohnern und 29
von 44 der Gemeinden zwischen 10.000
und 20.000 Einwohnern sowie die größe-
ren Städte Hoyerswerda, Riesa, Grimma,
Zittau, Limbach-Oberfrohna, Werdau, Cos-
wig und Annaberg-Buchholz. Diese dürften
weiter schnell schrumpfen.
Folgerungen aus den Studienergeb-
nissen
Das Land Sachsen spaltet sich demogra-
fisch. In den wenigen Schwarmstädten
steigt die Zahl der Einwohner in mehr als
beeindruckendem Maße an. „Ein solch
starkes und schnelles Wachstum von aus-
gewählten Städten in Deutschland hat es,
abgesehen von der Flüchtlingswanderung
zum Ende des Zweiten Weltkrieges, seit
mehr als 100 Jahren nicht mehr gegeben“
fasst Prof. Dr. Simons abschließend zusam-
men. Diese Bevölkerungsverschiebung im
Raum zugunsten einiger, weniger Städte
und zulasten aller anderen Gemeinden
stellt sämtliche öffentliche und private
Leistungsanbieter vor erhebliche und neue
Aufgaben. In den ausblutenden Regionen
wird die dort vorhandene Infrastruktur –
von Schulen über Abwassersysteme und
Bürgerämter bis hin zum Wohnungsmarkt
– immer weniger ausgelastet und dies in
einer viel größeren Geschwindigkeit als bis-
lang angenommen. Auf der anderen Seite
reichen in den Schwarmstädten die Kapa-
zitäten nicht aus: Die Wohnungsmärkte
spannen sich an, die ausreichende Versor-
gung mit Kita- und Schulplätzen ist gefähr-
det, Bauämter müssen ihre Kapazitäten
ausbauen, erhebliche Investitionen in die
öffentliche und private Infrastruktur sind
nötig. „Das Schwarmverhalten entwer-
tet öffentliche und private Vermögen bei
gleichzeitigem Investitionsbedarf. Die Lan-
despolitik sollte versuchen, sich gegen die-
sen Trend zu stellen“, so Prof. Dr. Simons.
Verbände fordern klare Positionie-
rung der Politik
„Unsere Gesellschaft wird aufgrund der all-
gemein längeren Lebenserwartung und der
bisher anhaltenden geburtenschwachen
Jahrgänge immer älter. Der zu erwartende
Pflegenotstand, die abnehmende Finanz-
kraft und der Wegbruch informeller Hilfe-
systeme werden in den nächsten Jahren
gerade in ländlichen Regionen vermehrt an
Brisanz gewinnen. Den Menschen so lang
wie möglich ein Leben in der gewohnten
und vertrauten Umgebung zu ermöglichen,
gewinnt damit an gesellschaftlicher Bedeu-
tung. Die Wohnung entwickelt sich immer
stärker zum Gesundheitsstandort. Für den
altersgerechten Umbau der Wohnung und
der Ausstattung mit Assistenzsystemen
werden Zuschüsse durch das Land benö-
tigt. Nur mit Ehrlichkeit im Umgang, dezen-
tralen Lösungen im ländlichen Raum sowie
der ganzheitlichen Betrachtung von Quar-
tieren können die Weichen für die nächsten
Jahre gestellt werden, denn die Wohnungs-
wirtschaft ist eine Branche, die immobil ist
und für 10 bis 15 Jahre im Voraus planen
muss. Die Landespolitik muss sich jetzt klar
positionieren“, forderte Dr. Axel Viehwe-
ger, Vorstand des VSWG. Auch Rainer Sei-
fert, Direktor des vdw Sachsen mahnte an,
jetzt die richtigen Konsequenzen aus der
Studie zu ziehen. „In Leipzig und Dresden
zeichnet sich ab, dass vor allem im Bereich
der Sozialwohnungen Neubauten notwen-
dig werden. Der vdw Sachsen spricht sich
daher für die Neugründung einer städti-
schen Wohnungsbaugesellschaft in Dres-
den aus. Doch auch in anderen Regionen
und ländlichen Gebieten Sachsens brau-
chen wir Unterstützung für Sanierungen
und den Um- und Neubau von Wohnun-
gen, selbst wenn dort der Leerstand höher
ist. Der Fokus sollte hier auf kinderfreundli-
chen und gleichzeitig altersgerechten inno-
vativen Projekte mit individuellerem Charak-
ter liegen. Dabei geht es vor allem darum,
auch den Menschen ein passendes Zuhause
zu bieten, deren Ansprüche sich verändert
haben. Wenn es solche Angebote nur noch
in den Ballungsräumen gibt, würde sich der
Trend vom Wegzug und der Landflucht –
auch von derzeit fest verankerten ganzen
Familien und Leistungsträgern dieser Regio-
nen – noch zusätzlich verstärken. Das muss
verhindert werden.“
(hess/schi)
Die Studie finden Sie unter diesem Kurz-Link:
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