Der Verwalter-Brief 2/2016 - page 10

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Deckert kompakt
den, sodass die angefochtenen Beschlüsse für
ungültig erklärt wurden.
Das bedeutet für Sie:
1. Kein Zwang zur Teilnahme an
Versammlungen und zur Abstimmung
a) Trotz bereits mehrfach gelesener Kritik hat
das Amtsgericht Neumarkt völlig zu Recht be-
stätigt, dass Eigentümer einer Versammlung
fernbleiben oder auch eine Versammlung vor-
zeitig verlassen, damit also auch auf ihr Ab-
stimmungskernrecht verzichten können. Dies
entspricht wohl auch jüngster BGH-Rechtspre-
chung. Es besteht auch kein Zwang, in solchen
Fällen Vollmachten zu erteilen. Eigentümer
können sich also grds. auch lethargisch-pas-
siv verhalten, ohne insoweit Schadensersatz-
verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft
oder restlichen, aktiven Eigentümern fürchten
zu müssen.
b) Ist ein Eigentümer anfänglich erschienen,
wird er in die Beschlussfähigkeit miteinbezo-
gen, auch wenn er in nachfolgenden Abstim-
mungen keine Erklärungen zu Beschlussanträ-
gen abgeben sollte. Insoweit kann ihm m. E.
auch keine bestimmte Willenserklärung un-
terstellt werden. Seine Stimme bleibt bei der
Auszählung unberücksichtigt, was mit einer
Enthaltung vergleichbar wäre.
c) Auch das vorzeitige Verlassen einer Ver-
sammlung kann aus meiner Sicht grds. kei-
nerlei Treuepflichtverstoß darstellen. Es gibt
durchaus gute Gründe für einen Eigentümer
oder eine Eigentümergruppe, vorzeitig den
Saal zu verlassen und sogar bewusst protestie-
rend die Beschlussunfähigkeit zu erzeugen. Ein
solches, wenn auch taktisch zu bezeichnen-
des, Manöver kann aus Sicht eines Eigentü-
mers vertretbar erscheinen, wenn er sich etwa
durch Beleidigungen oder unangemessene Re-
dezeitbegrenzungen beeinträchtigt fühlt. Sein
Verhalten kann auch von der Überlegung ge-
tragen sein, nachfolgend erwartete sachwid-
rige Beschlüsse und Anfechtungen zunächst
zu verhindern, um vielleicht noch (etwa durch
Rundschreiben vor einer Zweitversammlung)
die anderen Eigentümer umzustimmen. Auch
in solchen Fällen sollten Gerichte nicht von
treuwidrigem „Boykott“ sprechen, vielmehr
von zu Recht eigentümerseits erwünschtem
Zeitgewinn zum nochmaligen Überdenken an-
stehender Beschlussentscheidungen in einer
(allerdings von ihm nicht zu verhindernden)
Zweitversammlung.
Verhindert ein Eigentümer mit seiner Taktik, die
Beschlussunfähigkeit bewusst herbeizuführen,
allerdings z. B. eine dringende Sanierungsbe-
schlussfassung, können ihn u. U. zwischenzeit-
lich entstehende Verzugs- und Haftungsfolgen
treffen, was er stets mitbedenken sollte.
d) Völlig zu Recht hat das Amtsgericht auch die
derzeit vorherrschende Meinung zu Kausalitäts-
überlegungen bei formellen Beschlussmängeln
dargelegt. Gleiches gilt für die verneinte Ana-
logie zum GmbH-Recht. Eine Lückenschließung
ist im Wohnungseigentumsrecht aufgrund der
Regelung in § 25 Abs. 4 WEG nicht geboten
und auch nicht notwendig.
Im Ergebnis also eine sehr gut begründete und
überzeugende Entscheidung!
2. Zur Beschlussfähigkeit von
Eigentümerversammlungen im
Allgemeinen
Die Entscheidung sollte zudem Anlass sein,
sich angesichts der bevorstehenden Ver-
sammlungssaison nochmals die allgemeinen
Grundsätze der Beschlussfähigkeit vor Augen
zu führen.
a) Das WEG fordert in § 25 Abs. 3 aus guten
Gründen grundsätzlich die Beschlussfähigkeit
einer jeden Eigentümerversammlung, die ein
Versammlungsleiter auch schon zu Beginn
bereits vor Eintritt in die Tagesordnung nach
Errechnung festzustellen, bekannt zu geben
und zu protokollieren hat. Hiervon ist kraft
Gesetzes dann auszugehen, wenn die Mitei-
gentumsanteile erschienener (einschließlich
rechtswirksam durch Vollmacht vertretener),
stimmberechtigter Eigentümer rechnerisch
mehr als die Hälfte aller Anteile ergeben.
Da allerdings die gesetzliche Regelung ab-
dingbar ist, kann in der Gemeinschaftsord-
nung eine andere gültige Regelung enthalten
sein. So kann etwa statt auf qualifizierte An-
teilsmehrheit auch auf eine Eigentümer-Kopf-
Mehrheit abzustellen sein oder sogar gänzlich
auf Anforderungen an die Beschlussfähigkeit
verzichtet werden.
Das gesetzlich nicht zwingend geregelte Ge-
bot führt auch dazu, dass etwaige Verstöße al-
lein gegen Beschlussfähigkeitsanforderungen
nur zu einer (grundsätzlich auch erfolgreichen)
Beschlussanfechtung führen können, nicht je-
doch zu absoluter anfänglicher Beschlussnich-
tigkeit.
b) Ist von gesetzlichen oder vereinbarten Quo-
ren auszugehen und werden diese bereits zu
Beginn der Versammlung nicht erreicht, muss
der Verwalter in naher Folgezeit unter Wahrung
der Ladungsfristen eine neue Versammlung
(sog. Zweit- oder Wiederholungsversamm-
lung) mit grundsätzlich gleicher Tagesordnung
einberufen. Die Zweitversammlung ist dann
unabhängig von Beschlussfähigkeitsvorausset-
zungen stets beschlussfähig. Hierauf ist in der
Einladung zur Folgeversammlung ausdrücklich
hinzuweisen.
Eine unstreitig beschlussunfähige Erstver-
sammlung darf der Versammlungsleiter gar
nicht erst eröffnen. Erschienene, sicher auch
enttäuschte und frustrierte Eigentümer kön-
nen dann allenfalls informell über anstehen-
de Themen diskutieren, sollten allerdings
keinerlei (hochgradig anfechtungsbehaftete)
Beschlüsse fassen. Ist allerdings zu erwarten,
dass die Erstversammlung durch einige Nach-
zügler noch beschlussfähig werden könnte,
kann durchaus noch eine halbe oder gar eine
Stunde zugewartet werden, bis die Versamm-
lung vielleicht doch noch eröffnet oder die Zu-
sammenkunft endgültig abgebrochen wird.
Selbst ein vielleicht angeregter Geschäftsord-
nungsantrag, eine beschlussunfähige Versamm-
lung zu eröffnen und durchzuführen, sollte nicht
zur Beschlussfassung gestellt werden. Eine be-
schlussunfähige Versammlung kann verständli-
cherweise auch keinen solchen Geschäftsord-
nungsbeschluss fassen. Ein solches Ansinnen
sollte der Versammlungsleiter ablehnen.
c) Die Zulässigkeit einer sog. Eventualeinberu-
fung der Erstversammlung mit angekündigter
anschließender Zweitversammlung gleichen
Tages (z. B. eine halbe Stunde später) gestat-
tet der Gesetzeswortlaut in § 25 Abs. 4 WEG
nicht. Auch in der ersten Einladung „vorsorg-
lich“ bereits einen Termin für eine Wiederho-
lungsversammlung festzulegen, dürfte nach
bisher vorherrschender Meinung abzulehnen
sein. Solche Möglichkeiten müssten ausdrück-
lich vereinbart sein, um formell anfechtungssi-
chere Beschlüsse fassen zu können.
Höchst umstritten und noch nicht abschlie-
ßend geklärt ist in diesem Zusammenhang die
Frage, ob eine Gemeinschaft antizipiert den
Versuch rechtsgültiger Beschlussfassung des
Inhalts vornehmen könnte, dass „Beschlüsse
allein in nächster Versammlung auch dann
gefasst werden können, wenn in dieser Folge-
versammlung zu Beginn keine Beschlussfähig-
keit feststellbar sein sollte“. In der Praxis wird
an eine solche Vorbeschlussfassung gedacht,
wenn erfahrungsgemäß Versammlungen bis-
her stets unterrepräsentiert waren und immer
wieder zu Wiederholungsversammlungen ge-
laden werden musste. Geht man allein von
einer Einzelfallrechtswidrigkeit eines solchen
Vorbeschlusses aus, könnte dieser nach ver-
einzelt vertretener Ansicht mangels Anfech-
tung Bestandskraft und Folgewirkung entfal-
ten. Nach seinerzeitiger Literaturmeinung von
Wenzel und Merle widerspricht ein solcher
Beschluss allerdings der Gesetzesintention im
Anschluss an die Grundsatzentscheidung des
BGH vom 20.9.2000 (V ZB 58/99) und soll von
Anfang an nichtig sein, was zur Folge hätte,
dass auch alle Beschlüsse in gewollt nächster,
tatsächlich beschlussunfähiger Versammlung
zumindest erfolgreich anfechtbar wären.
d) Beschlussfähigkeit muss allerdings nicht
nur zu Beginn einer Versammlung bestehen,
sondern auch zu allen Beschlusspunkten. Ohne
Anhaltspunkte oder bestehende/gerügte
Zweifel seitens der Versammlungsleitung oder
Hinweise aus dem Eigentümerkreis muss der
Versammlungsleiter allerdings nicht stets von
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