Immobilienwirtschaft 4/2018 - page 71

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ihren privaten Konsum und dessen Finanzierung zu kümmern,
so vermögen die Mittelmäßigen die Regierung zu dominieren.
Dabei scheint de Tocqueville die amerikanische Kultur des
Scheiterns nicht unsympathisch. Er zeigt, dass ein Bankrotteur
in den USA immer wieder Wagniskapital erhält. Dies begrün-
det er simpel: Wenn jemand sein gesamtes Vermögen einsetzt
und hart arbeitet, kann er erfolgreich sein oder scheitern.
Wenn er erfolgreich ist, neidet man ihm den gewonnenen
Reichtum nicht – schließlich hat das Gemeinwohl durch das
erfolgreiche Projekt auch einen Mehrwert erlangt. Scheitert er
aber, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder das Projekt war un-
möglich umzusetzen, dann hat die Allgemeinheit eine Erfah-
rung, die sich (hoffentlich) nicht noch einmal wiederholt. Oder
aber, der Unternehmer hat einen Fehler gemacht, Pech gehabt,
die Finanzierung verloren etc. Dann kann jemand anderes das
Projekt beenden, sodass das Gemeinwohl ebenfalls von einem
gelungenen Projekt profitiert, nicht zuletzt durch Steuerein-
nahmen. Wenn aber so ein Gescheiterter abermals alle Energie
daransetzt, Eigenkapital zu erarbeiten und ein neues Projekt
umzusetzen, erhält er leicht eine Finanzierung. Einerseits, weil
er gezeigt hat, dass er für seine Ideen brennt und alles einsetzt
sowie hart arbeitet. Andererseits, weil er gelernt hat, durch Kri-
sen zu gehen. Der Gescheiterte, so lernen wir von de Tocque-
ville, ist kein Schönwetterkapitän und hat daher dem Grunde
nach die bessere Ausgangsposition für ein neues Projekt. Doch
was lernen wir heute aus den Beobachtungen der US-Ökono-
mie durch einen Franzosen vor fast 200 Jahren?
DEMUT IST BALLAST
Der deutschen Immobilienwirtschaft geht
es prächtig. Für einige ist das ein guter Grund, Demut nicht
als eine notwendige Charaktereigenschaft des Erfolgreichen
zu sehen, sondern als Ballast. Wenn es allen prächtig geht, gibt
es auf kurze Sicht keine Notwendigkeit, sich mit Scheitern zu
befassen, schon gar nicht mit dem Scheitern anderer. Wo aber
liegt das Risiko, aus den Fehlern anderer etwas zu lernen? In
der beginnenden Industrialisierung beobachtete de Tocque-
ville dies als Stärkung des Unternehmerhandelns. Derzeit trifft
eine bemerkenswert gute Konjunktur auf eine historische
Niedrigzinsphase. Es muss jedem klar denkenden Menschen
bewusst sein, dass diese Situation auf lange Sicht nicht nur
nicht anhalten wird. Die Umverteilungen im Euro-Raum und
die Resultate der Staatsfinanzierung via EZB wird die nächste
Rezession durch politische Verwerfungen potenzieren. Den-
noch vermitteln in diesen Tagen manche Manager und auch
Unternehmer der Immobilienbranche den Eindruck, als sei der
Boom ihres Unternehmens allein ihrem Genius zu verdanken.
Wie ausgeprägt Managementfähigkeiten sein müssen, wenn
der Markt beinahe alle Produkte absorbiert, kann man trefflich
diskutieren. Diskutieren sollte man in jedem Falle auch, ob es
Schönwetterkapitäne besser auf die vor uns liegenden Stürme
vorbereitet, wenn die Möglichkeit des Scheiterns nicht in Be-
tracht gezogen wird – vor allem aber keine Vorbereitungen für
den Umgang mit Scheitern getroffen werden. Hochmut kommt
bekanntermaßen vor dem Fall.
FUCK-UP NIGHTS
In nur wenigen Jahren hat sich ein Phänomen
in vielen entwickelten Ländern verbreitet: die FuckUp Nights.
Dort berichten in rund 250 Städten in 80 Ländern – zumeist
erfolgreiche – Unternehmer und Manager über ihr Scheitern.
Das Spektrum reicht von einem schlecht verkäuflichen neuen
Produkt bis zur Insolvenz. Die Veranstaltungen sind ein sehr
großer Erfolg. Immer mehr Unternehmer erkennen den Wert
dieser „Case Studies unter Realbedingungen“. Das Scheitern
und seine Transparenz ist ein volkswirtschaftlicher Wert. Die
Immobilienbranche hat einen wichtigen Anteil an der Volks-
wirtschaft, aber nur einen geringen Anteil an Besuchern auf
FuckUp Nights. Es müssen ja nicht gleich die Verantwortlichen
für BER oder Stuttgart21 sein: Zu lernen, welche Projekte auf
welche Weise nach Lehman, nach 2008, scheiterten und wie
man heute rückblickend einiges Scheitern in Zukunft verhin-
dern könnte, wäre ein Wert an sich.
Deshalb lautet mein April-Gruß an Sie, liebe Leser: Fuck up!
Now! Wer neue Einsichten und Perspektiven gewinnt, kann
nur gewinnen – auch am Ende des Booms.
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ZUR PERSON
Julien Reitzenstein
Der forensische Historiker beobachtet seit Jahrzehnten den Immobilienmarkt und schreibt seit 2007 für
die „Immobilienwirtschaft“. Seine Forschungen, beispielsweise zur Restitution von Immobilien, erfordern einen klaren Blick auf politische und
gesellschaftliche Entwicklungen. Seine Beobachtungen der Welt erscheinen in der monatlichen Kolumne „Reitzenstein denkt …“ Als Historiker
lehrt Julien Reitzenstein an verschiedenen Universitäten. Als Aufsichtsrat und Berater ist er auch in der Wirtschaft aktiv.
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