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          0.2016
        
        
          Als ich Anfang der 90er Jahre nach Berlin kam, war die Stadt
        
        
          ein ausgebombter, abgetakelter Ozeandampfer, havariert und
        
        
          vergessen in den Eiswüsten des Kalten Krieges. Der Potsdamer
        
        
          Platz, die ehemals verkehrsreichste Kreuzung Europas, verlassen,
        
        
          die Teststrecke einer winzigenMagnetschwebebahn umkurvte in
        
        
          weitem Rund die Ruine des ehemaligen Luxushotels Esplanade.
        
        
          Noch bis 2008 war Berlin mit nur 3,2 Millionen Einwohnern
        
        
          eine leere, schrumpfende Stadt. Riesige Wohnungen in bester
        
        
          Lage, die kaum einer wollte, die demografische Perspektive nega
        
        
          tiv. Mittlerweile laufen die Dinge etwas besser. Und schon breitet
        
        
          sich hochmütige Euphorie innerhalb der Runde der Immobili
        
        
          enmanager aus. Aber in derMetropolregion Berlin-Brandenburg
        
        
          leben heute immer noch keine vier Millionen Menschen.
        
        
          Dagegen ist Londonmit über 13Millionen die größte Metro
        
        
          pole Europas. Das nach New York wichtigste Finanzzentrum der
        
        
          Welt ist hoch vernetzt und globalisiert. Über 30 Wolkenkratzer
        
        
          mit einer Höhe von mehr als 150 Metern stehen bereits heute
        
        
          dort. Mehr als 200 Hochhausprojekte sind genehmigt. Diese Di
        
        
          mensionen sind in Deutschland nur als Fata Morgana sichtbar.
        
        
          London beeindruckt durch seineWeltoffenheit. Rund 40 Prozent
        
        
          der Einwohner sindMigranten. Die liberalisierte Stadt hat von der
        
        
          Globalisierung so stark profitiert wie kaum eine andere.
        
        
          Allein in den vergangenen sieben Jahren ist die Wirtschafts
        
        
          leistung Londons um rund ein Drittel gewachsen. Der Wert der
        
        
          Wohnimmobilien in den zehn teuersten Stadtvierteln soll dem
        
        
          gesamtenHausbestand in Schottland, Wales undNordirland ent
        
        
          sprechen. Die boomende Hauptstadt erwirtschaftet mittlerweile
        
        
          mehr als ein Fünftel der gesamten britischen Wirtschaft.
        
        
          VIELES KANN MAN VON LONDON LERNEN
        
        
          Denn mit dem Nieder
        
        
          gang des Empire schrumpfte die Einwohnerzahl bis Ende der
        
        
          80er Jahre um fast ein Viertel. Als ich nach meinem Studium
        
        
          dort arbeitete, befand sich das Büro von Norman Foster in einem
        
        
          runtergewirtschafteten Teil der Stadt. Richard Rogers war, ge
        
        
          fühlt, ganz weit draußen. Die Stadt sah häufig hässlich aus, die
        
        
          Stimmung war gedrückt. „Recession“ sollte noch für die ganze
        
        
          erste Hälfte der 90er Jahre das bestimmende Wort bleiben.
        
        
          Aber die Mieten waren vergleichsweise günstig. Das zog junge
        
        
          Kreative an, und mit der rauschenden Globalisierung begann
        
        
          ein rasanter Aufschwung. Heute ist die irrwitzige Preisspirale
        
        
          für Wohnungen und Büros schon längst zum schwerwiegenden
        
        
          Standortnachteil geworden. Gebaut wird viel. Aber nur noch für
        
        
          die Superreichen. Die Stadt hängt amHaken der Eigentümer und
        
        
          Spekulanten, die einen Großteil des Wohlstandes abschöpfen.
        
        
          Die Lebensqualität der meisten sinkt und die Wut steigt. Mit
        
        
          der Brexit-Entscheidung erlebt London gerade die Rache der
        
        
          Zurückgebliebenen. Um diese Entwicklungen in Deutschland
        
        
          zu dämpfen, ist vorrangig das soziale Wohnungsproblem in den
        
        
          Städten zu lösen. Dabei darf sich die Immobilienbranche nicht
        
        
          nur als Profiteur, sondern auch als Helfer verstehen. Sie darf die
        
        
          Arbeit am Zusammenhalt der Gesellschaft nicht den kommu
        
        
          nalen Wohnungsbaugesellschaften und der öffentlichen Hand
        
        
          allein überlassen. Gerade drohen wir krachend zu scheitern. Wir
        
        
          verpassen die historisch einmalige Chance, die Städte auf ein
        
        
          neues Qualitätsniveau zu heben. Stolz auf das Erreichte kann hier
        
        
          keiner sein. Bei den viel zu niedrigen Zinsen kann jeder bauen.
        
        
          TROTZDEM
        
        
          werden immer noch zu wenig Wohnungen gebaut.
        
        
          Und zu viele sind zu teuer. DieWohnungen, die realisiert werden,
        
        
          bilden nicht den Bedarf ab, sondern konzentrieren sich zumeist
        
        
          auf das kapitalstärksteMarktsegment. Die Folgen sind in London
        
        
          bereits lange sichtbar. Die Innenstädte verkommen zu langwei
        
        
          ligen Bankiersgettos und die Kreativen ziehen weiter. Nur inklu
        
        
          sive, offene Gesellschaften sind attraktiv fürMenschenmit Ideen.
        
        
          Nur Städte mit Ideen können auf Dauer bestehen.
        
        
          Deshalb, Expo-Teilnehmer: Seid nicht mit teurem, langwei
        
        
          ligem „Weitersowiebisher“ zufrieden! Zu lange wurde bereits an
        
        
          fragwürdigen Standards festgehalten, dreidimensionales Planen
        
        
          hinausgeschoben, Prozesskultur belächelt und modulares Bauen
        
        
          abgetan. Die Interessenskonflikte der Beteiligten verdarben die
        
        
          Ergebnisse. Und imBürobau werden immer noch Raster gezählt,
        
        
          anstatt Räume zu bauen. Es ist höchste Zeit, bessere und vor allem
        
        
          angemessenereWohnungen, Büros, Hotels undQuartiere zu bau
        
        
          en. Lasst uns auf dieser Expo damit anfangen.
        
        
          
            Viel zu lange wurde an fragwürdigen Standards festgehalten, dreidimensionales Planen hinausgeschoben und modulares Bauen abgetan.
          
        
        
          
            Mein Appell an alle Expo-Teilnehmer: Kein „Weitersowiebisher“!
          
        
        
          «
        
        
          
            ZUR PERSON
          
        
        
          
            Eike Becker
          
        
        
          leitet seit Dezember 1999 mit Helge Schmidt gemeinsam das Büro Eike Becker_Architekten in Berlin.
        
        
          Internationale Projekte und Preise bestätigen seitdem den Rang unter den erfolgreichen Architekturbüros in Europa. Eike Becker_Architekten arbeiten
        
        
          an den Schnittstellen von Architektur und Stadtplanung mit innovativen Materialien und sozialer Verantwortung.