Personalmagazin 7-2018 - page 100

Hier gibt es nichts zu beschönigen: Offensichtlich wollten da
einige auf den Zug aufspringen, um gleich wieder auszusteigen.
Zu hoher Aufwand, der Invest lohnt sich nicht. Hinzu kommt
mangelnde kulturelle Aufgeschlossenheit – nicht selten eige-
nem Bekunden zum Trotz. Die Vorbehalte sind einfach zu groß.
Insidern zufolge wird hierzulande im Vergleich zu anderen euro-
päischen Ländern zu wenig gegen verbreitete Vorurteile getan.
In England etwa, sagt Sabine Koch, die Autisten als Job-Coach
des IT-Dienstleisters Auticon in der Arbeitswelt begleitet, gehe
man bereits in der Schule offen mit Andersartigkeit um. „Weil
das Klima stärker von Offenheit und Akzeptanz geprägt ist, fällt
es Unternehmen auch leichter, Diversität zu leben.“
Noch immer sind psychische
Beeinträchtigungen im Job ein Tabuthema
Zudem tun sich Unternehmen viel leichter mit körperlichen Be-
einträchtigungen ihrer Beschäftigten, meint Matthias Prössl, der
als ehemaliger Specialisterne-Geschäftsführer dem SAP-Projekt
wichtige Impulse verlieh. Heute berät er Firmen darin, worauf
es ankommt, um Autisten nachhaltig zu beschäftigen. „Psychi-
sche Beeinträchtigungen, was Autismus faktisch nicht ist, sind
ein Tabuthema in der Wirtschaft. Man weiß nicht, was einen
erwartet“, erklärt er.
Koch zufolge trägt vielfach Unkenntnis dazu bei, dass Unter-
nehmen sich nicht trauen, Autisten einzustellen. „Wer meint,
sie stünden dauernd unter höchster Anspannung und drohten
schnell aus den seelischen Fugen zu geraten, irrt.“ Autisten mit
dem Asperger-Syndrom, die Auticon als IT-Consultants beschäf-
tigt und überwiegend über Werkverträge in Kundenprojekten
einsetzt, seien robuster als es sich viele Arbeitgeber gemeinhin
vorstellten.
Laut aktuellen Studien sind sechs von 1.000 Menschen dem
Autismusspektrum zuzuordnen, in Deutschland also eine halbe
Million. Nach den internationalen Diagnosekriterien (ICD10)
gehört Autismus zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen.
Das Spektrum reicht vom frühkindlichen Autismus mit kogniti-
ven Einschränkungen bis zum kaummerklichen Asperger-Syn-
drom. Lediglich 15 Prozent gelingt es, im Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen. So bleibt viel versprechendes Potenzial im Verborgenen
beziehungsweise verkümmert auf dem Abstellgleis ununterbro-
chener Arbeitslosigkeit.
Selbst Personen mit Hochschulabschluss fallen früh durchs
Raster, weil sie wiederholt an der für sie hohen Hürde des Vor-
stellungsgesprächs scheitern. Wer stellt schon einen Kandidaten
ein, der jeglichem Blickkontakt ausweicht und sich partout nicht
auf Smalltalk einlassen will? Für einen Menschen mit Autismus
ist das eine Qual. Denn die Mimik des Gegenübers kann er nicht
entschlüsseln. Er versteht alles wörtlich.
Ina Eichholz hat als Coach rund 600 Autisten beim Einstieg
ins Arbeitsleben begleitet. Ihre Erfahrungen hat sie in einem
Buch aufbereitet. Gezielt bringt sie Arbeitgeber und Autisten
zusammen, entwickelt Strategien für eine gedeihliche Koope-
ration und steht parat, wenn es mal hier und dort hakt. „Um
die Stärken des Autisten zur Entfaltung zu bringen, müssen die
Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz stimmen“, betont die
Autismusberaterin, die seinerzeit im Team von Specialisterne
die SAP-Initiative mit aus der Taufe hob. Unternehmen benö-
tigten vor allem ein regelmäßiges Refreshing. „Warum haben
wir Autisten an Bord geholt, was versprechen wir uns davon
und was müssen wir dafür tun, dass es funktioniert?“ Nur so
stabilisierten sich Strukturen, Verhaltensweisen und die alles
zusammenhaltende Vertrauensbasis.
Jobs für Autisten: nicht nur IT-Berufe sind hier
denkbar und möglich
„Autisten sind in allen Berufen einsetzbar“, lautet Eichholz’
Credo. Erkundigen sich Unternehmen, welche Tätigkeiten über-
haupt infrage kommen, sagt sie grundsätzlich: „Alle“. Gärtner,
Bäcker und viele Büroangestellte hat sie erfolgreich vermittelt.
Aktuell bringt sie einen Kandidaten, der unbedingt Fotograf
werden will, mit potenziellen Arbeitgebern ins Gespräch. Von
diesem universellen Einsatzpotenzial überzeugt ist auch Auti-
con-Gründer Dirk Müller-Remus. Er hat inzwischen ein zweites
Startup gegründet: Seit 2017 engagiert er sich mit Diversicon als
Personalvermittler für Autisten.
Freilich liegt das unbestreitbar größere Momentum in der
IT-Sparte. Wie SAP früh erkannt hat, bietet das facettenreiche Tä-
tigkeitsfeld der IT einen idealen Nährboden, um typische Kom-
petenzen von Autisten wie das rasche Erkennen von Mustern
und ihren hohen Qualitätsanspruch schnell zu entfalten. Neben
ihren kognitiven Fähigkeiten überzeugen sie nach Einschätzung
Bleibt zu fragen,
warum sich nicht
auch andere
Unternehmen mit
vergleichbaren
Ressourcen an die
Inklusionsaufgabe
heranwagen.
Unbefriedigende
Ergebnisse können
es nicht sein.
Foto: Vincent Delbrouck, courtesy Galerie Stieglitz19, Last Tree, from the series Some Windy Trees, Himalayas, 2010
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HR-Management
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