Wirtschaft und Weiterbildung 3/2018 - page 62

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wirtschaft + weiterbildung
03_2018
Nadine Schmidt
hot from the US
Für Daniel Pink ist Zeit kein Konstrukt, das eine
philosophische Betrachtung nahelegt, sondern
in erster Linie eine Frage des richtigen Timings
(„Wann?“). Mit dieser Brille arbeitet er sich durch
zahlreiche Studien zu drei Aspekten:
· Auswirkungen von innerer Uhr und Biorhythmus auf
die Leistungsfähigkeit von Individuen
· Bedeutung und Charakteristika von Anfängen
sowie Abschlüssen und der Zeit dazwischen
· Synchronisation von Menschen in Gruppen zur
Bewältigung von gemeinsamen Aufgaben.
In jedem Fall eignet sich das Buch als Fundgrube
für aktuelle Forschungserkenntnisse und für Tipps
und Tricks (neudeutsch: Hacks) für Einzelne und
in geringerem Maße für Teams. Das ausführliche
Literaturverzeichnis macht es leicht, bei Bedarf und
Interesse tiefer zu gehen.
Da Pink ein weitgehend lineares Verständnis von
Zeit unterstellt, haben die von ihm vorgestellten
Erkenntnisse überwiegend „Wenn-dann-Charak-
ter“ – was einige seiner Empfehlungen arg trivial
erscheinen lässt.
Hinter den Erwartungen zurück bleibt der dritte Teil,
der außer einem spannenden Fallbeispiel wenig
Neues zu bieten hat: Pink portraitiert die in Mum-
bai seit 125 Jahren tätigen „Dabbawalas“, die sich
ohne elektronische Unterstützung so synchronisie-
ren, dass sie jeden Mittag pünktlich warmes Essen
ausliefern. Der mittlere Teil jedoch bietet insbeson-
dere für Teamentwickler und Organisationsberater
jede Menge Material.
Viele der vorgestellten Erkenntnisse sind für dieje-
nigen unter uns spannend, die sich mit der Orches­
trierung von Veränderung beschäftigen. Als beson-
ders fruchtbar könnte es sich erweisen, an dieser
Stelle die kluge und viel zu wenig verbreitete Idee
des „Situationspotentials“ ins Spiel zu bringen. Der
Begriff stammt von dem französischen Philosophen
Francois Jullien, der sich intensiv mit China und
dessen Vorstellung von Wandel befasst hat. Dem-
nach machen westliche Steuerungsphantasien, die
dem Design der meisten Change-Projekte zugrunde
liegen, ausgesprochen wenig Sinn: Zuerst wird eine
Vision definiert, dann werden aufwendige Action
Roadmaps entwickelt, die schließlich aufgrund
des „Widerstands“ (gern genommen: das mittlere
Management) nur schwer umsetzbar sind. Auf den
Plan gerufene Berater diagnostizieren dann gerne
„fehlenden Purpose“ und rufen zur krea-
tiven Sinnsuche auf.
Lässt man sich dagegen auf die fernöst-
liche Perspektive ein, geht es darum,
achtsam die momentane Situation zu
beobachten und darin liegende Chancen
zu erkennen, um günstige Gelegenheiten klug zu
nutzen, sodass der erwünschte Zustand wahr-
scheinlicher wird.
Dadurch gerät das richtige Timing in den Fokus der
Aufmerksamkeit. Die Sache hat allerdings einen
Haken: Eine solche Perspektive eignet sich doch
sehr wenig für die Inszenierung von weltverbes-
sernden Heldentaten.
Plädoyer für eine unterbelichtete Dimension
Es wird Zeit für die Zeit
Nadine Schmidt, München, arbeitet als international tätige Beraterin und Executive Coach (Mail:
hat unter anderem an der UC
Berkeley studiert und ist Alumna und Lecturer am CDTM (Center for Digital Technology & Management). Sie begleitet Organisationen und Führungsteams bei der
Gestaltung der Zukunft. In regelmäßiger Abfolge stellt sie an dieser Stelle neue Fachbücher aus den USA vor, deren Lektüre sich für unsere Leser lohnt.
Foto: Kay Blaschke
Daniel H. Pink:
„When.
The Scientific Secrets
of Perfect Timing”
(Verlag Canongate,
Edinburgh 2018,
258 Seiten, 21,50 Euro)
Es gilt, günstige Gelegenheiten klug zu
nutzen, sodass ein erwünschter
Zustand wahrscheinlicher wird.
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