grundls grundgesetz
Boris Grundl
64
wirtschaft + weiterbildung
10_2017
Wenn Unternehmen Weiterbildung einkaufen, wird
„Können“ gewünscht und dann doch zu oft „Ken-
nen“ und damit Oberflächlichkeit gebucht. Woher
kommt das? Es gibt zwei ineinander verwobene
Antworten: Anstrengungsvermeidung und Domi-
nanzstreben. Der Weg von der unbewussten Inkom-
petenz zur unbewussten Kompetenz ist lang. Da
bleiben viele einfach auf der Stufe der bewussten
Kompetenz stehen (= Kennen). Der letzte und
anstrengendste Schritt zur unbewussten Kompe-
tenz (= Können) wird vermieden. Außerdem ist der
Wunsch, andere zu dominieren, überall gegenwär-
tig. Besser sein, klüger sein, stärker sein ... Doch
das darf nicht zugegeben werden. Denn es ist sozial
unerwünscht. Deswegen taucht das ursprüngliche
Motiv in den Untergrund ab. Und die Sucht nach
Bestätigung wird grenzenlos. Denn wer noch lernen
muss, ist nicht stärker. Ist nicht besser. Ist nicht
klüger. Und „nicht mehr lernen müssen“ wird zum
immateriellen Statussymbol. Selbstbestätigung
schlägt Lernbestrebung. „Verstanden werden wol-
len“ schlägt „verstehen wollen“.
Anstatt zum Beispiel das Thema „Verantwortung“
noch tiefer geistig zu durchdringen und es damit
noch besser zu verstehen, wird sich auf die Suche
nach etwas Neuem gemacht. Eine neue Idee, ein
neuer Ansatz, ein neuer Trainer. Das Neue im Neuen
finden ist weniger anstrengend als das Neue im
Alten. Und schwups sind wir beim gegenwärtigen
Ergebnis. Oberflächlichkeit wird als Tiefgang dar-
gestellt. Wie es der Kunde wünscht. Und das nährt
den Höher-schneller-weiter-Wahn. Doch dieser emo-
tionalen Sackgasse würde ich gerne das Konzept
„flexibler, klarer, tiefer“ entgegenstellen. Das fängt
mit dem Wunsch an, zuerst „verstehen zu wollen“.
Denn wer versteht, gewinnt.
Sich selbst verstehen. Andere verstehen. Märkte
verstehen. Unternehmen verstehen. Produktion ver-
stehen. Familie verstehen. Vertrieb verstehen. Sinn
verstehen. Menschliche Entwicklung verstehen.
Transformation verstehen. Das Leben verstehen!
Bei der Transformation von Führungs-
teams ist das eine entscheidende Erkennt-
nis. Auf die Frage: „Wer möchte von
anderen vorurteilsfrei verstanden werden?
Wer von Ihnen wünscht sich, dass andere
von Ihrem Standpunkt aus auf eine Sache
schauen?“ fliegen gefühlte 98 von 100 Armen hoch.
Danach folgt die nächste Frage: „Was glauben Sie,
wie wichtig es Ihren Mitarbeitern ist, von Ihnen ver-
standen zu werden?“
Plötzlich wird vielen klar: Erst wenn sich ein Mensch
von einem anderen verstanden fühlt, gibt er diesem
die Erlaubnis, ihn zu entwickeln. Eine Erkenntnis,
die nur kraftvoll wird, wenn wir lernen, zu verstehen,
ohne einverstanden sein zu müssen. Nur dann kön-
nen wir uns ganz auf andere Sichtweisen einstellen
und die stärkste Perspektive auswählen.
Tiefes Lernenwollen heißt tief verstehen, aufneh-
men, verarbeiten und umsetzen wollen. Dafür muss
man die Welt in sich hineinlassen – zuerst in den
Kopf aufnehmen, intellektuell. Das ist „lebens-
langes Lernen“ im Kern. Und das funktioniert nur,
wenn wir beim Verstehenwollen so stark sind, dass
wir nicht „einverstanden sein müssen“. Dann lernen
wir, unseren Horizont tatsächlich zu erweitern. Und
jetzt verstehen wir auch den Harvard Professor
William James mit seiner Analyse: „Denken ist, was
viele Leute zu tun glauben, wenn sie ihre Vorurteile
ordnen.“
Paragraf 59
Wer versteht,
gewinnt!
Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden.
Er gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein jüngstes Buch heißt „Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ (Econ
Verlag, Oktober 2017). Boris Grundl zeigt, wie wir uns von oberflächlichem Schwarz-weiß-Denken verabschieden. Wie wir lernen, klug hinzuhören, differenzierter zu
bewerten, die Perspektiven zu wechseln und unsere Sicht zu erweitern.
Tiefes Lernenwollen heißt tief
verstehen, aufnehmen, verarbeiten
und die Welt in sich hineinlassen.
„
„