PERSONALquarterly 03/16
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_DIE WAHRHEIT HINTER DER SCHLAGZEILE
D
igitalisierung und Arbeitsplatzverlust. Dieses Wort-
paar bewegt Techniker und Ökonomen, Soziologen
und Psychologen. Und auch Journalisten und ihre
Leser haben so ihre Meinung. „Jeder Vierte fürch-
tet Arbeitsplatzverlust“, titelt evangelisch.de im Januar 2015.
Befragt wurden 500 deutsche Arbeitnehmer vom Meinungs-
forschungsinstitut TNS. Im Mai 2016 schreibt diepresse.com:
„Digitalisierung: Österreicher fürchten um Jobs.“ 63 Prozent
gehen demnach davon aus, dass die Digitalisierung mehr Jobs
vernichtet als schafft. Wie die Daten erhoben wurden, verrät
der Artikel nicht. Auch die Wirtschaftswoche übt sich Mitte
Mai wieder einmal in Schwarzmalerei und zitiert die Huawei-
Studie, einen Deutschland-China-Vergleich: „Deutsche haben
Angst vor Digitalisierung.“ Demnach fürchten 60 Prozent, dass
durch die fortschreitende Digitalisierung Jobs abgebaut wer-
den. Und natürlich warnt Verdi-Chef Frank Bsirske auf faz.
net (Januar 2015) vor dem Jobabbau durch die Digitalisierung,
während der Präsident des Bundesverbandes der Arbeitgeber,
Ingo Kramer, im März 2016 die Chancen der Arbeitszeitflexi-
bilisierung durch die Digitalisierung hervorhebt – und eine
Änderung des Arbeitszeitgesetzes fordert.
Prognosen für die Zukunft noch unscharf
Damit macht er natürlich ein Fass auf, das alle interessierten
Seiten auf den Plan ruft und die Diskussion mit den Polen Digi-
talisierung und Arbeitsplatzverlust dreht eine neue Runde. Un-
ter geht dabei, wie unscharf die Prognosen für die Zukunft der
Digitalisierung noch sind. Denn Wissenschaftler suchen nach
Basisdaten, befragen Unternehmer und Arbeitnehmer, Tech-
nik- und Arbeitsmarktexperten. Sie greifen auf Bildungs- und
Sozialversicherungsdaten zurück, durchforsten international
die OECD-Erhebungen und national die Rentenversicherungen
– und kommen dennoch zu eher zurückhaltenden Ergebnis-
sen, weil das Tempo, in dem die Digitalisierung in deutsche
Fabriken und Büros einziehen und damit Realität werden wird,
eine Unbekannte bleibt.
So haben sich am Mannheimer Zentrum für Europäische
Wirtschaftsforschung (ZEW) der Senior Researcher Ulrich
Zierahn und Kollegen die Studie der Forscher Carl B. Frey
und Michael A. Osborne vorgenommen, die fast die Hälfte der
Wie stark die Digitalisierung Arbeitsplätze verändern und Arbeitslosigkeit steigern
wird, hängt von technologischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen ab.
Daten vorsichtig interpretieren
Arbeitsplätze durch die Digitalisierung in Gefahr sieht. Ihre
Ergebnisse sind als Kurzexpertise 57 an das Bundesministeri-
um für Arbeit und Soziales adressiert. Das Forscherteam hat
die Daten für Deutschland ausgewertet und weist auf zwei er-
gebnisrelevante Faktoren hin: Zum einen werden nicht Berufe,
sondern Tätigkeiten automatisiert und zum anderen werden
neben dem technischen Automatisierungspotenzial weitere
Einflüsse auf die Arbeitsmarktentwicklung wie gesellschaft-
liche, rechtliche, ethische Hürden sowie ökonomische Pro-
zesse nicht genügend berücksichtigt. „Technik braucht klare
Regeln zur Umsetzung“, beschreibt Zierahn und warnt vor
dem Glauben, technische Potenziale würden in einer komple-
xen Wirtschaft alle realisiert.
Untersuchungen aus der Vogelperspektive
Die ZEW-Forscher weisen darauf hin, dass unter Berücksich-
tigung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte
neue Technologien Arbeitsplätze sehr oft verändern, statt
sie komplett zu beseitigen – und kommen zu einer vorsich-
tigeren Schätzung: Zwölf Prozent der Beschäftigten werden
voraussichtlich von der Automatisierung betroffen sein – da-
runter vor allem geringqualifizierte und geringverdienende
Erwerbstätige. „Wir dürfen nicht nur schauen, welche Arbeit
gibt es heute“, sagt der ZEW-Wissenschaftler, „wir müssen
auch fragen, welche Arbeit haben wir in Zukunft.“ Dies haben
die Forscher Melanie Arntz, Terry Gregory und Ulrich Zierahn
mit den repräsentativen OECD-Daten in ihrer Arbeit „The Risk
of Automation for Jobs in OECD Countries“ in einem zweiten
Schritt getan. Für Deutschland untersucht das Forscherteam
jetzt unter Nutzung von Sozialversicherungsdaten und Ergeb-
nissen aus Unternehmensbefragungen die Situation in Betrie-
ben. „Bisher haben wir die Vogelperspektive eingenommen“,
so Zierahn. Fragen nach dem Wandel von Arbeitsplätzen und
möglicher Qualifizierung werden erst mit weiteren Untersu-
chungen beantwortet werden können.
Um näher ans Geschehen in den Unternehmen heranzu-
kommen, arbeitet das Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Ar-
beitswirtschaft und Organisation IAO beim Thema Industrie
4.0 mit Szenarien, die Automatisierung und Spezialisierung
abbilden. „Wir wissen alle nicht, wohin es geht mit der Be-
Ruth Lemmer
, Freie Wirtschaftsjournalistin, Düsseldorf