wirtschaft und weiterbildung 05/2015 - page 20

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wirtschaft + weiterbildung
05_2015
gust 2011), so liegt der Ursprung im Jahr
1971. Zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte
Allen Tough, ehemals Professor an der
University of Toronto, die Ergebnisse sei-
ner Forschung in dem Buch „The Adult’s
Learning Projects“. Dort tauchte erstmals
die Zahl 70 Prozent auf, die sich zu Lern-
und Veränderungsbemühungen im Sinne
des informellen Lernens in Beziehung
setzen lässt.
Seinen Studien zufolge werden Erwach-
sene zu etwa 70 Prozent von sich aus
aktiv, um Wissen und Fertigkeiten zu
erwerben, Einstellungen oder Gewohn-
heiten zu ändern. Sie suchen dazu Hilfe
und Lernmaterial bei Bekannten, Exper-
ten oder in Printmedien. Bei dieser Be-
trachtung sind alle Lernaktivitäten einge-
schlossen – von der Buchlektüre bis zum
Einzeltraining. Im Mittelpunkt seiner
Forschung stand die Frage, warum in be-
stimmten Situationen der Wunsch nach
Lernen entsteht und dadurch sogar ganz
bewusst Anstrengungen in Kauf genom-
men werden.
Im Jahr 1996 entstand durch die For-
schungsarbeit von Morgan McCall und
seinen Kollegen Bob Eichinger und Mi-
chael Lombardo vom Center for Creative
Leadership
North Caro-
lina die 70-20-10-Formel. Eichinger und
Lombardo schrieben in ihrem Buch „The
Career Architect Development Planer“,
dass Lernerkenntnisse bei erfolgreichen
und effektiven Führungskräften sich wie
folgt zusammensetzen:
• 70 Prozent aus anspruchsvollen Jobs
• 20 Prozent durch andere Leute, beson-
ders dem eigenen Chef
• 10 Prozent durch Schulungen, Lektüre.
Der Fokus der Betrachtung liegt auf der
Führungskräfteentwicklung und der
These, dass Führungskräfte am meisten
durch herausfordernde Aufgabenstel-
lungen in der Berufspraxis lernen. Diesen
Blickwinkel verdeutlichten einige Jahre
zuvor Morgan McCall, Michael Lombardo
und Ann Morrison im Jahr 1988 in ihrem
Buch „The Lessons of Experience“. Ge-
rade letztes Jahr hat nun das besagte Cen-
ter for Creative Leadership (ein großer,
weltweit agierender, kommerzieller An-
bieter für Führungskräfteentwicklung mit
eigener Forschungsabteilung) in einem
White Paper seinen Blended Learning Ap-
proach for Leadership dargestellt, in dem
dann auch wieder die 70-20-10-Formel
auftaucht.
Wem nutzt dieser Hype?
Diesmal gedanklich erweitert um neue
technische Möglichkeiten von virtu-
ellen Klassenzimmern bis hin zu ver-
schiedensten Formen des On-Demand-
Learnings und Social Learnings. Auch
hier lautet die Botschaft: 90 Prozent des
Lernens sollten informelles Lernen sein.
Mittlerweile hat diese Bildungsformel
eine Generalisierung erfahren. Sie wird
für alle Beschäftigten (nicht nur für Füh-
rungskräfte!) als Nonplusultra angesehen
- vermutlich, weil die Formel so eingän-
gig klingt und wie ein einfaches Rezept
für den Bildungserfolg wirkt. Wenn man
diese Zusammenhänge betrachtet, klingt
dies alles nicht nach neuer Weisheit.
Warum also wird nun nach mehr als 20
Jahren diese Formel so häufig zitiert und
deren Missachtung als Todsünde bewer-
tet?
Die Erklärung für die Renaissance liegt
auf der Hand: Mit der Digitalisierung
und der 70-20-10-Formel ergibt sich ein
attraktives Geschäftsfeld für Berater und
mit den dazugehörigen Kosteneinspa-
04.
... Menschen, die selbst
Gelegenheiten zum
Üben
suchen
05.
... Menschen, die sich
kollegiales Feedback
organisieren
06.
... Menschen, mit
Sinn für
persönliches
Wachstum
.
R
Zwei junge Männer stehen gebeugt vor
ihrem Küchentisch. Ihr ratloser Blick trifft
die glasigen Augen eines toten Fischs.
„Google, zeige mir Videos, wie man einen
Fisch filetiert“, spricht einer überdeutlich
in sein Smartphone. Sein Kumpel steht
mit einem scharfen Messer im Anschlag,
schaut konzentriert auf das erste Video
und fängt an, den Worten zu folgen: Di-
rekt am Kopf schneidet man …
Dieser Filmclip trifft genau ins Herz all
jener Menschen, die Lernen einfach und
mundgerecht haben wollen. Die Bot-
schaft lautet: Frag‘ Google oder das fir-
meneigene E-Learning-System und Du
bekommst genau die Information, die
die Situation aktuell erfordert. Corporate
Learning kann so einfach sein. Online-
Lernen ist die perfekte Antwort auf die
aktuellen Herausforderungen, die in Form
eines Zeit-, Globalisierungs- und Kosten-
drucks auf den Schultern der Personal-
entwickler lasten. Und im Gefolge dieser
Entwicklung ist plötzlich eine fast 20
Jahre alte Formel wieder aufgetaucht, die
in aller Munde zu sein scheint. In zahl-
reichen Gesprächen mit Personalentwick-
lern taucht neuerdings die magische 70-
20-10 Bildungsformel auf. Weiß Gott, wer
diese vom Staub befreit hat. Aber nun ist
sie da und gilt in ihrer Einfachheit als die
perfekte Weiterbildungsphilosophie. Was
ist dran an der Formel?
Die verschütteten Ursprünge
der 70-20-10-Bildungsformel
Auf der Suche nach dem Ursprung des
70-20-10-Bildungsmodells stößt man auf
den Blog von Charles Jennings, einem der
weltweit führenden Experten zur Imple-
mentierung von 70-20-10-Lernstrategien.
Folgt man seinen Gedanken (vom 4. Au-
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