Wirtschaft und Weiterbildung 10/2016 - page 62

fachliteratur
62
wirtschaft + weiterbildung
10_2016
In roten Lettern steht der Titel, der zugleich die Aus-
gangsfrage des aktuellen Buchs von Martin Dornes
ist, auf dem Coverumschlag: „Macht der Kapita-
lismus depressiv?“, heißt es dort. Der Band selbst
ist jedoch eine Antwort. Eine Entgegnung auf eine
viel zitierte These, die besagt, dass die Entwicklung
zur modernen Leistungsgesellschaft mit einer Zu-
nahme psychischer Erkrankungen, einem Mehr an
Depression und Überforderung einhergehe. Dieser
Annahme tritt Dornes mit sachlich-kühler Argumen-
tation entgegen. Anhand von Zahlen und einschlä-
gigen Studien zeichnet der Autor, der selbst habili-
tierter Psychoanalytiker ist, ein ganz anderes Bild:
Aus wissenschaftlicher Sicht sei es nämlich unzuläs-
sig, von der Anzahl entsprechender Diagnosen auf
eine Zunahme psychischer Erkrankungen zu schlie-
ßen. Dies sei schlichtweg ein Scheinzusammenhang.
Vielmehr habe die Sensibilität für Symptome und
Syndrome zugenommen, die in früherer Zeit nicht
als Ausdruck einer Krankheit anerkannt waren und
entsprechend unerkannt im Dunkeln blieben. Nicht
die Zahl der tatsächlichen Krankheitsfälle sei also ge-
stiegen, sondern die Krankheitswahrnehmung habe
sich verändert und das Versorgungsangebot ausge-
weitet — der Annahme, kapitalistische Lebens- und
Arbeitsstrukturen machten depressiv, fehle somit die
empirische Grundlage. Ein Argument, das stichhal-
tig erscheint und allzu simple Erklärungsmuster als
Ideologien entlarvt. Dennoch bestreitet Dornes einen
Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen
Verhältnissen und der psychischen Gesundheit frei-
lich nicht grundsätzlich. Eine Darstellung der tat-
sächlich weitaus vielschichtigeren Zusammenhänge
ist allerdings nicht der Schwerpunkt des Titels. Dem
Autor geht es in erster Linie darum, mit Pauschal-
urteilen und Alltagsannahmen aufzuräumen. Darin
zeigt sich letztlich das Anliegen des Buchs, das —
trotz einiger polemischer Spitzen — nicht als neoli-
berale Schönfärberei missverstanden werden sollte.
Es ist ein Diskursbeitrag zur aufgeheizten Debatte
rund um Arbeit, Leben und Psyche. Es ist eine wis-
senschaftlich fundierte Streitschrift, die dem Kultur-
pessimismus eine moderat optimistische, wenngleich
zuweilen etwas unkritische Sichtweise gegenüber-
stellt. Auch wer die Perspektive des Autors nicht teilt,
kann aus dem Buch so manches mitnehmen – zum
Beispiel eine gesunde Skepsis gegenüber sicher ge-
glaubten Wirkungsverhältnissen und statistisch
plausibel erscheinenden Korrelationen. Aber auch
Grundlagenwissen zu Krankheitsbildern wie Depres-
sion und Burn-out, Einblicke in die psychologische
Fachliteratur sowie aktuelle Zahlen und Statistiken.
Der Mensch in der
Leistungsgesellschaft
PSYCHOLOGIE
Martin Dornes
Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische
Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften,
S. Fischer, Frankfurt am Main 2016, 160 Seiten,
15,99 Euro
Martin Dornes
ist promovierter Soziologe und
habilitierter Psychoanalytiker. Er
arbeitete in den Bereichen Psychi-
atrie, Psychosomatik, Sexualmedi-
zin und Medizinischer Psychologie. Von 2004 bis 2014
war er Mitglied des Leistungsgremiums am Frankfurter
Institut für Sozialforschung.
AUTOR
Foto: Gaby Gerster
1...,52,53,54,55,56,57,58,59,60,61 63,64,65,66,67,68
Powered by FlippingBook