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06/16 spezial Recruiting
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Unternehmen schwer, ihre Prozesse und
Erwartungen an das anzupassen, was
ein Kandidat mobil sinnvoll bereitstellen
kann. Gleichzeitig ist bei den Bewerbern
der Wunsch nach einer mobilen Bewer-
bung nicht so ausgeprägt. Je nach Positi-
on wollen sie sich möglichst gut präsen-
tieren, anstatt sich mit einem Click auf
dem Smartphone zu bewerben. Aus Sicht
der Recruiter und Führungskräfte bieten
viele Anbieter von Recruiting-Software
noch wenig brauchbare mobile Oberflä-
chen – obwohl das eigentlich das nahelie-
gendere Mobil-Szenario wäre.
Das zweite Thema, das im Tal der Ent-
täuschung steckt, ist Strategic Workforce
Planning: Erst war die Hoffnung groß,
auf Basis einer solchen Planung künf-
tig besser, strategischer und proaktiver
rekrutieren zu können. Heute ist das
Thema wieder aus „Hype-Status“ heraus,
ohne dass viele Unternehmen greifbare
Resultate als Planungsgrundlage für die
Personalgewinnung bekommen.
Ebenfalls von seinem Zauber verloren
hat das „Generation Y“-Recruiting. Die
Idee, die Kommunikation auf die unter-
schiedlichen Bedürfnisse der Zielgrup-
pen zuzuschneiden, ist sinnvoll. Aber die
Firmen stellen fest, dass nicht so sehr
der Geburtenjahrgang, sondern eher
die Ausbildung und die Lebenssituation
Einfluss auf die Präferenzen der Kandi-
daten haben. Zudem merken sie, wie viel
Komplexität in dem Thema zielgruppen-
spezifische Ansprache steckt. Wer sich
schon damit schwertut, unterschiedliche
Fotos für Azubis und Berufserfahrene
umzusetzen, ist noch weit von einer
praktischen Anwendbarkeit komplexerer
Zielgruppendifferenzierungen entfernt.
Noch nicht wirklich produktiv
Zu den Themen, die gerade auf jeder
Konferenz heiß laufen, ohne in der All-
tagspraxis schon große Relevanz zu ha-
ben, gehört „Big Data“. Ein Grund liegt
darin, dass die meisten Personalabteilun-
gen schon beim Erfassen einfacher Kenn-
zahlen so dünn aufgestellt sind, dass noch
ein weiter Weg zu gehen ist. Ein weiterer
Grund ist: Auf legale Weise kommen in
Deutschland kaum Datenmengen zusam-
men, die diesen Begriff rechtfertigen. So
ist die Situation zumindest innerhalb der
Unternehmen. Mehr Potenzial liegt in der
Nutzung von externen Daten, etwa aus
Business-Netzwerken. Doch trotz aller
Medienpräsenz: Hier wagen die Firmen
allenfalls erste Gehversuche.
Auch Candidate Experience dominiert
als Buzzword Blogs und Veranstaltungen,
bevorzugt mit dem Fokus auf digitale Be-
nutzeroberflächen. In der Praxis scheint
die Verbesserung des digitalen Kandi-
datenerlebnisses aber eine langsame,
kontinuierliche Entwicklung zu sein und
kein akuter Trend. Zudem ist es schade,
dass das Thema stark auf die digitale
Welt eingegrenzt wird. Dadurch geraten
die großen Potenziale von analogen Be-
rührungspunkten wie Bewerber-Hotline,
Empfang am Werkstor oder Interview-
verlauf ins Hintertreffen.
Das automatisierte Matching gehört
ebenfalls in die Kategorie „noch nicht
wirklich produktiv“. Seit den ersten Ta-
gen des E-Recruitings besteht die Vision
der automatisierten Bewerberauswahl,
die Praxistauglichkeit fällt nach wie vor
mager aus. Die Technologie macht zwar
echte Fortschritte, doch viel zu häufig
funktioniert sie am besten unter Labor-
bedingungen: Also mit sehr umfang-
reichen und aktuellen Daten (dagegen
stehen aber Candidate Experience und
Datenschutz) und mit klar definierten
und operationalisierten Stellenprofilen
(hier krankt es oft in der Realität).
Am fernen Horizont
Welche Themen zeichnen sich als lang-
fristige Trends ab? Auch wenn die Idee
eines automatisierten Matchings noch
keine Praxisreife hat – in dem Thema
steckt Potenzial. Vor allem, wenn es
nicht um das Matching einzelner Kandi-
daten zu Stellen geht, sondern eher um
die Ermittlung von Anforderungsprofi-
len auf Basis umfangreicherer Daten.
Die Verknüpfung von Daten zu ty-
pischen Auswahlmerkmalen (Schulno-
ten, Verweildauer in vorangegangenen
Jobs, Einträge im Führungszeugnis) so-
wie nicht-typischen Kriterien (benutzter
Browser, private Interessen) mit tatsäch-
licher Leistung in unterschiedlichen Jobs
bringt Predictive Analytics und Recru-
iting zusammen. Hierbei sind nach wie
vor Fragen zum Datenschutz wie auch der
Überbrückung der Gräben zwischen den
einzelnen Personalsystemen zu beantwor-
ten. Aber je mehr „Datenfutter“ verfügbar
ist, desto eher kann die Technologie die
Aussage unterstützen, was einen Mitar-
beiter in einer Position erfolgreich macht.
Auch in neu aufkommenden Tech-
nologien steckt langfristiges Potenzial:
Ob Virtual Reality und 3D-Video, um
Kandidaten ein Vor-Ort-Erlebnis zu er-
möglichen, oder Augmented Reality, um
ortsbasierte Infos zur Orientierung im
Unternehmen einzublenden. Doch bis
zur Marktreife stehen nicht nur Verfüg-
barkeit und Akzeptanz der Technologie
dem Einsatz im Wege, sondern auch die
Notwendigkeit, dass hierfür zunächst
neue Erzählformen erschlossen werden
müssen.
Durch die Innovationskurve
Recruiting steckt im Digitalisierungs-
Spagat. Auf der einen Seite hat das The-
ma massive Veränderungen in Sachen
Kandidatenansprache, Mediennutzung
und Bewerbungsformen durchlaufen,
auf der anderen Seite stecken viele The-
men, die uns aktuell beschäftigen, noch
im typischen Verlauf einer Innovations-
kurve und müssen zunächst eine Phase
der Ernüchterung durchlaufen, bevor sie
flächendeckend im Recruiting-Alltag an-
kommen. Das heißt aber auch: Wir dür-
fen uns freuen – sowohl über die Digita-
lisierungserfolge der vergangenen Jahre
als auch auf das, was noch kommt.
SÖREN FRICKENSCHMIDT
ist Head of Recruiting Servi-
ces bei Boehringer Ingel-
heim. Zuvor war er über zehn
Jahre als Berater tätig.
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