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TITEL
_FLÜCHTLINGE BESCHÄFTIGEN
personalmagazin 01/16
gesamten Prozedur am Anfang. Schon
Deutsch lernen, um eine Berufsausbil-
dung aufzunehmen, dauert ein Jahr. Die
Berufsausbildung selbst dauert dann
noch mal drei Jahre. Denn wir wollen
die Flüchtlinge ja nicht als Hilfsarbeiter
einstellen. Wollen wir aber jeden nach
seinen Möglichkeiten einstellen, ist es
ganz wichtig, ihn in die vorhandenen
Systeme richtig einzusteuern. Insge-
samt wird es also ab der Ankunft der
Flüchtlinge in Deutschland schon einen
Zeitraum von fünf Jahren erfordern, bis
viele von den jüngeren Flüchtlingen
überhaupt in den Arbeitsmarkt integ-
riert werden können. Und wir müssen
erst einmal schauen, wie das überhaupt
mengenmäßig geht. Denn es stehen
sich Relationen gegenüber, die nicht
ganz einfach aufgehen.
personalmagazin:
Vielerorts werden prag-
matischere Lösungen gefordert, um die
Flüchtlinge zu integrieren. Ist das der
entscheidende Punkt?
Hüther:
Es gibt keine Geheimrezepte für
die Integration in den Arbeitsmarkt,
die einzigen Systeme hierfür sind Bil-
dung und Beschäftigung, das ist nun
mal so. Wir müssen einfach an den
Themen arbeiten, die auf der Tagesord-
nung stehen: Ganz nüchtern klären,
wie man die Beschäftigungs- und die
Ausbildungsfähigkeit ermitteln kann.
Also müssen Personaler eigentlich das
weiterhin tun, was sie immer tun, nur
in einer anderen Quantität. Und na-
türlich auch in anderen Dimensionen,
denn die Herausforderungen durch die
kulturellen Differenzen sind erheblich.
„Nicht ohne Anstrengung“
INTERVIEW.
Bringt der Flüchtlingsstrom die gesuchten Fachkräfte? Oder werden die
Unternehmen noch mehr belastet? Ein Wirtschaftsexperte beleuchtet die Situation.
personalmagazin:
Nach aktuellen Schät-
zungen wird die Zahl der Flüchtlinge in
Deutschland bis Ende des Jahres auf eine
Million angestiegen sein – ist das die
Lösung für das Problem des Fachkräfte-
mangels in Deutschland?
Michael Hüther:
Nicht automatisch, und
nicht ohne gewaltige Anstrengungen.
Denn wir wissen inzwischen, dass 80
Prozent der Flüchtlinge ohne Berufs-
ausbildung sind. Und die ersten Er-
kenntnisse zeigen auch, dass erhebliche
Schwierigkeiten bei den meisten Flücht-
lingen bestehen, sich in unsere Arbeits-
welt einzufinden. Das heißt nicht, dass
es nicht gelingen kann. Aber man muss
eben vor der Erwartung warnen, dass
die Beschäftigung von Flüchtlingen zum
Selbstläufer wird.
personalmagazin:
Was wären die ersten
Schritte, die man jetzt gehen muss?
Hüther:
Es muss zunächst einmal dar-
um gehen, die Beschäftigungsfähigkeit
und die Ausbildungsfähigkeit zu analy-
sieren. Dazu haben wir in Deutschland
sehr gute Systeme, zum Beispiel über
Berufsagenturen oder in der dualen Be-
rufsausbildung. Auch Praktika sind hier
zum Kennenlernen der Fähigkeiten und
Anforderungen sehr wichtig.
personalmagazin:
Ein Drittel der Flüchtlin-
ge sind Kinder und junge Erwachsene,
die jetzt noch an Schule und Ausbildung
herangeführt werden können. Verein-
facht das die Lage?
Hüther:
50 Prozent der Flüchtlinge sind
unter 34 Jahren, knapp 30 Prozent
unter 18 Jahren. Das macht die Sache
tatsächlich wieder etwas entspannter.
Mit der allgemeinen Schulpflicht funk-
tioniert das sehr gut: Über die Integra-
tionsklassen können wir sehr schnell
diese Kinder, auch die unbegleiteten,
in das Bildungssystem aufnehmen.
Und die vielen Jugendlichen, die im Be-
ginn ihrer beruflichen Möglichkeiten
sind, können gerade in unser System
der dualen Berufsausbildung sicher-
lich besser eingesteuert und integriert
werden als in vielen anderen Ländern.
Aber auch hier bleibt es ein langer Weg.
personalmagazin:
Ein langer Weg bis die
Flüchtlinge tatsächlich dem Arbeitsmarkt
zur Verfügung stehen?
Hüther:
Im Grunde stehen wir bei der
PROF. DR. MICHAEL HÜTHER
ist Wirt-
schaftsforscher und Direktor des Instituts
der Deutschen Wirtschaft Köln (IW).