personalmagazin 01/16
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TITEL
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FLÜCHTLINGE BESCHÄFTIGEN
S
eit Monaten bestimmt die Flücht-
lingskrise die Schlagzeilen.
Während die einen vor Überfor-
derung und Chaos warnen, ge-
ben sich andere optimistisch und werben
für eine neue Willkommenskultur.
Klar ist, dass die vielen Flüchtlinge zu
einer Herausforderung werden. Nicht
nur für die Gesellschaft an sich, sondern
auch für den deutschen Arbeitsmarkt.
Dieser „könnte nicht in besserer Verfas-
sung sein“, meint Bundesarbeitsministe-
rin Andrea Nahles (SPD). Sie sieht darin
eine gute Voraussetzung, um die Flücht-
linge in Deutschland zu integrieren.
Doch auch die Ministerin erwartet zu-
nächst einmal negative Auswirkungen
auf den Stellenmarkt. „Ich rechne damit,
dass die Arbeitslosenzahlen steigen“, so
Nahles. Das Institut für Arbeitsmarkt und
Berufsforschung (IAB) prognostiziert für
Von
Christofer Grass
(Red.)
2016 einen Anstieg um rund 70.000 Ar-
beitslose auf 2,8 Millionen. Ohne den
Flüchtlingsandrang würde die Arbeits-
losenzahl vermutlich um 60.000 nach
unten gehen. „130.000 Zuwanderer wer-
den unserer aktuellen Prognose zufolge
im nächsten Jahr zusätzlich arbeitslos
gemeldet sein“, sagt IAB-Chef Joachim
Möller. Das Arbeitsministerium rechnet
damit, dass im kommenden Jahr 460.000
Flüchtlinge Hartz IV beantragen werden
– die Kosten würden sich auf 1,8 bis 3,3
Milliarden Euro belaufen, so Nahles.
Die Wirtschaftsweisen gehen in ihrem
Jahresgutachten davon aus, dass sich die
direkten, öffentlichen Ausgaben für die
Flüchtlingsmigration in diesem Jahr
auf 5,9 bis 8,3 Milliarden Euro belaufen
werden sowie zwischen neun und 14,3
Milliarden Euro im nächsten Jahr. „An-
gesichts der guten Lage der öffentlichen
Haushalte sind diese Kosten tragbar“,
heißt es im Gutachten des Sachverstän-
digenrats.
Lösung für den Fachkräftemangel?
Viele Unternehmen sehen den großen
Flüchtlingsstrom als Chance, um dem
Fachkräftemangel zu begegnen. Dement-
sprechend offen zeigen sich viele Firmen
und leisten so manche Anschubhilfe.
Ob Konzerne, mittelständische Un-
ternehmen oder kleine Betriebe – die
Initiativen zur Integration und Beschäf-
tigung von Flüchtlingen erfolgen un-
abhängig von der Unternehmensgröße
und gehen quer durch alle Branchen. Oft
werden Praktikaprogramme und Quali-
fizierungsmaßnahmen im Verbund mit
Sprachkursen angeboten. Auch die In-
dustrie- und Handelskammern sowie die
Handwerkskammern bieten Unterstüt-
zung und stehen Betrieben wie Flücht-
lingen beratend zur Seite. Konkrete
Beispiele für Initiativen und Rekrutie-
rungsstrategien von Unternehmen lesen
Sie in unseren Beiträgen auf den Seiten
26 und 29.
Bei all der Offenheit und Unterstüt-
zung seitens der Wirtschaft warnen
Arbeitsmarktforscher jedoch vor zu viel
Euphorie. Führende Wirtschaftsexper-
ten rechnen in ihrer Herbstprognose
damit, dass lediglich 89.000 Asylsu-
chende in diesem Jahr Zugang zum Ar-
beitsmarkt finden (bei einer geschätzten
Zahl von 900.000 Asylbewerbern im
Jahr 2015). Im nächsten Jahr könnte die
Zahl auf 295.000 steigen (bei geschätz-
ten 600.000 Asylbewerbern). Das IAB
geht davon aus, dass der Weg in den Ar-
beitsmarkt für die meisten Flüchtlinge
sehr lang ist. Im Zuzugjahr würden bis
dato nur acht Prozent aller Asylsuchen-
den eine Arbeit finden. Bis die Hälfte der
Antragsteller eine Arbeit gefunden hat,
könnten mindestens fünf Jahre verge-
hen. Darüber hinaus sei ihr Gehalt ten-
denziell etwa 400 Euro geringer als bei
anderen Einwanderungsgruppen.
Diesen Einschätzungen schließt sich
auch die Arbeitsministerin an. „Die Er-
wartungen, dass es Flüchtlinge nach ein
bis zwei Jahren geschafft haben, ist zu
hoch. Das dauert länger als wir alle er-
warten“, so Andrea Nahles.
Etwa vier Prozent der arbeitslos ge-
meldeten Flüchtlinge haben bis dato
einen Job gefunden, wie die „Passauer
Neue Presse“ Mitte November berich-
Langer Atem erforderlich
ÜBERBLICK.
Viele Unternehmen sehen in den Flüchtlingen ein großes Arbeitskräfte
potenzial. Arbeitsmarktforscher warnen jedoch vor zu viel Euphorie.
VIDEO
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die Rede von Frank-Jürgen Weise auf
dem Arbeitgebertag zur Integration von
Flüchtlingen durch Arbeit.
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