110 KOLUMNE
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m Februar 2010 veröffentlichte Vizekanzler Guido Wester-
welle in der „Welt“ einen immer noch lesenswerten Gastbei-
trag unter dem Titel: „An die deutsche Mittelschicht denkt
niemand“. Er schrieb: „Es scheint in Deutschland nur noch
Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das
alles erarbeitet.“
Man mag unterschiedlicher Auffassung darüber sein, in wel-
chem Maße der Staat umverteilen sollte und in welchem Um-
fang Gerechtigkeit allein durch Umverteilung herstellbar ist.
Ein Staat, der sich als Garant für Gerechtigkeit inszeniert und
damit jahrzehntelange Steigerungen von Steuer- und Abgaben-
quoten rechtfertigt, verliert wichtige Aspekte aus dem Blick:
Eigenverantwortung und Sinn für das Gemeinwohl erodieren,
das Anspruchsdenken steigt. Immer mehr Menschen verlassen
sich darauf, dass der Staat hilft – primär mit Geld.
Einerseits ist diese Entwicklung endlich. Andererseits nimmt
die Spaltung der Gesellschaft stetig zu. Immer höheres An-
spruchsdenken bei immer endlicheren Mitteln und schwin-
dendem Sinn für Eigenverantwortung führt zu Unzufrieden-
heit. Es beginnen Verdrängungskämpfe um Aufmerksamkeit
und Mittel. Gefühlt wird jede Woche eine neue Opfergruppe
identifiziert, um die sich wohlmeinende Mitbürger küm-
Reitzenstein denkt an ...
mern. Hinzu gesellt sich manches Mal der Verdacht, dass
nicht Empathie die treibende Kraft der Helfenden ist, sondern
moralischer Narzissmus, manchmal in Verbindung mit wirt-
schaftlichen Überlegungen. So wirkt es bisweilen so, als seien
jene, denen geholfen wird, nur der Mittel zum Zweck, damit
sich der Helfende als weltoffen, tolerant, Diversity-affin und
vieles mehr selbst loben kann. Gewiss trifft das nicht auf die
vielen hunderttausend stillen Helfer zu, die aus Mitmensch-
lichkeit ihre Freizeit opfern, um empathisch Gutes zu tun.
Jedoch werden diese Anständigen aufgrund ihrer Stille und
ihres guten Stils „Tu Gutes und sprich nicht darüber“ immer
weniger wahrgenommen. Die Medien und die Politik reagieren
auf Sichtbarkeit, auf das laute Schrille. Und mit der Aufmerk-
samkeit kommt das Geld, das die moralischen Narzissten noch
bestätigt.
In der Stille gibt es aber auch eine Gruppe, die der Immobilien
branche originär nahesteht. Die meisten ihrer Angehörigen
sind nicht Social-Media-präsent und in der Regel nicht fotogen
und wohlriechend. Sie sind eher verkriechend; oft gebeugt
von Scham. Die Obdachlosen sind zudem für viele Politiker
keine relevante Wählergruppe. Auch sind sie keine fordernde
Gruppe, die mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht. Diese
... Staat, Profit und
Verantwortung
Quelle: one line man/shutterstock.com