Die Wohnungswirtschaft 7/2018 - page 11

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Wer „aufs Land” ziehen oder dort bleiben will,
spielt seine Bedürfnisse wie mit einem Scanner im
Kopf durch: Gibt es qualifizierte und gut bezahlte
Arbeit? Wie ist die Verkehrsanbindung? Erreiche
ich über Internet oder perMobiltelefon problemlos
meine Kollegen, Verwandten und Freunde? Würde
ichmich hinreichend versorgt undmedizinisch be-
treut fühlen? Welche Angebote gibt es für meine
Kinder hinsichtlich Kita und Schule, Bildung und
Ausbildung?
Dieses Beispiel ist auch auf schrumpfendeOrte oder
Regionen übertragbar und zeigt: UmAbwanderung
und Schrumpfung zu begegnen, sind guteWohnver-
hältnisse zwar notwendig, aber nicht hinreichend.
Mit dem Aufruf „Wohnen und Bauen nicht nur in
Metropolen” hat der GdW deshalb gemeinsammit
der Bundesstiftung Baukultur ein Signal für die
Stärkung des ländlichen Raumes gesetzt. Gefragt
seien Ankerstädte mit lebendigen Ortskernen, die
auf ihr Umland ausstrahlen. Laut Koalitionsvertrag
will auch die Bundespolitik den Ruf nach Polyzent-
ralität und gleichwertigen Lebensbedingungen als
wiederzuentdeckendem Leitbild ernst nehmen. Es
wird auch Zeit, denn gut die Hälfte aller Kreise in
Deutschland verliert trotz allgemeinen Bevölke-
rungswachstums Einwohner – dies zeigt u. a. die
Arbeit des Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
Raumforschung (BBSR) zu den Wohnungs- und
Immobilienmärkten in Deutschland aus dem Jahr
2016.
Potenziale und Erwartungen
Auch periphere oder schrumpfende Regionen ha-
ben Qualitäten: kein Großstadtstress, ruhiges Le-
ben in naturnahen Landschaften, nachbarschaftli-
ches Zusammenleben, informelle Netzwerke. Wer
der lauten, boomenden, großen Stadt „entflieht”,
will meist die Vorteile des Wohnens auf demLande
genießen: gute und möglichst naturnahe Wohn-
qualität, gern mit Garten und Garage. Sicheres
Kinderspiel imFreien. Überschaubarkeit und Ver-
trautheit. Und, nicht unwichtig: mehr Fläche für
weniger Geld.
Diese Erwartungen zeigen: Der Wohnraumbe-
darf von Ansiedlungswilligen und nicht zuletzt
von Einheimischen kann nicht ausschließlich aus
dem rein quantitativ reichlich vorhandenen, teils
leerstehenden Bestand befriedigt werden. Das gilt
umso mehr, wenn man sich diejenigen genauer
anschaut, die in eine mittelgroße Stadt oder in
eine kleinere Gemeinde ziehen wollen.
Denn zum Ersten suchen qualifizierte Beschäftig-
te nach bedürfnisgerechtemund anspruchsvollem
Wohnraum. Auch in stark geschrumpften oder teil-
weise noch schrumpfenden Städten – wie u. a. im
pfälzischen Pirmasens, imsachsen-anhaltinischen
Wolfen oder im sächsischen Hoyerswerda – gibt es
Firmen, die anspruchsvolle Arbeitsplätze anbie-
ten und Wohnungen für ihr Personal suchen. Zum
Zweiten zieht es viele Abgewanderte z. B. aus den
Metropolen irgendwann wieder nach Hause. Sie
suchen nun oft ein hochwertiges Wohnmilieu in
der alten Heimat. Drittens sind – wenn die Kinder
aus dem Haus sind, das Rentenalter naht und das
Haus im Dorf zu groß oder zu abgelegen ist – klei-
nere Städtemit guten Betreuungs- undDienstleis-
tungsangeboten besonders bei älterenHaushalten
beliebt.
Qualitäten und Konzepte
Wie aber konzeptionell herangehen an den offen-
sichtlich erforderlichenNeubau oder die Bestands­
erneuerung? Bewährt haben sich integrierteRegio-
nal- und Stadtentwicklungskonzepte, in denen die
beteiligten Gemeinden auf Basis einer aus demo-
grafischer und Wirtschaftsentwicklung abgeleite-
ten Gesamtperspektive für ihren Siedlungsraum
denUmgangmitWohnungen und Flächen vereinba-
ren. Dieses Vorgehen erfolgt dabei konsequenter-
weise in drei voneinander abhängigen Bausteinen:
• Aufwertung des auf Dauer notwendigen Woh-
nungsbestandes,
• Neubau in nachgefragten, vor Ort nicht ausrei-
chend vorhandenen Marktsegmenten und
• konsequentes Sich-Trennen von nicht mehr be-
nötigtemWohnraum.
Zu berücksichtigen sind bei den erforderlichen
Entscheidungen auch Lage und Baukultur: Woh-
nungsbau soll vor allem den Ortskern stärken und
das identitätsstiftende Stadtbild bereichern – im
Unterschied zummancherorts sichtbaren „Donut-
Effekt“ durch Ortskernverfall bei gleichzeitiger
Zersiedelung des Ortsrandes.
Best Practice
Die in diesem Themenschwerpunkt behandelten
Beispiele zeigen, wie diese Strategie funktionieren
kann. Um zwei Vorhaben herauszuheben: In Söm-
merda ist auf einer aufgelassenen innenstadtnahen
Fläche inZusammenarbeit vonGenossenschaft und
kommunaler Wohnungsbaugesellschaft ein neues
Quartier entstanden, das weder in Konkurrenz zur
Altstadt noch zum vorbildlich sanierten Platten-
baugebiet „Neue Zeit” steht, sondern auf Fehlbe-
darfe angemessen reagiert (siehe S. 16).
In Bremerhavenwar der Deutsche Bauherrenpreis
für das Projekt „Living Streets” der städtischen
Wohnungsbaugesellschaft eine Bestätigung für
die hohe Qualität, mit der im Schulterschluss
von Stadt, Wohnungsgenossenschaft und kom-
munalemWohnungsunternehmen schrittweise die
zukunftsfähigen Wohnungsbestände der 1950er
und 1960er Jahre saniert werden (siehe S. 34).
Gleichzeitig hat die Stadt den von ihren Eigentü-
mern vernachlässigten oder gänzlich verlassenen
innerstädtischen Schrottimmobilien den Kampf
angesagt. Eine wichtige Rolle spielt dabei das
städtische Wohnungsunternehmen.
Diese und viele andere Beispiele zeigen: Die Woh-
nungswirtschaft kann Einiges tun für den Attrak-
tivitätsgewinn des ländlichen Raumes, aber sie
kann es nicht allein. Gefragt ist geeignete För-
derung, um die Attraktivität der Abwanderungs-
regionen zu stärken und Eigeninitiative vor Ort
zu belohnen.
Dabei sind die Länder ebenso gefordert wie der
Bund. Es ist Sache der Länder, zu entscheiden, dass
die Wohnraumförderung auch für den Neubau in
schrumpfenden Regionen und Gemeinden einge-
setzt werden kann – eine plausible, aus dem kon-
kretenBedarf hergeleitete planerische Begründung
vorausgesetzt. Ebenso können die Programme der
Städtebauförderung einen wichtigen Beitrag zur
Aufwertung und Stabilisierung der Siedlungskerne
leisten. Dabei darf es aber nicht nur umdie – vieler-
orts ebenfalls notwendige – Rückbauförderung aus
der Programmatik des Stadtumbaus gehen.
Vor allemdas Programm„Kleinere Städte und Ge-
meinden” kann einen noch stärkeren Beitrag zu den
Interessen der vom GdW vertretenen Wohnungs-
unternehmen leisten, die nachgefragten urbanen
Zentren mit ihren angespannten Wohnungsmärk-
ten durch einen Attraktivitätsgewinn des ländli-
chen Raumes zu entlasten.
Der Bund ist gut beraten, wenn er sich in seiner
Raumordnungspolitik daran erinnert, dass ein
ausbalanciertes, hierarchisch gegliedertes de-
zentrales Siedlungssystem einen strukturpoliti-
schen Vorteil darstellt, der sich inwirtschaftlicher
Effizienz und guten Lebensverhältnissen in allen
Landesteilen niederschlägt. Der Boom weniger
Metropolen bei einem gleichzeitigen Ausbluten
des Landes ist ein strukturelles Merkmal von ge-
ringer entwickelten Staaten.
Fazit
Der Leitspruch „Small is beautiful” sollte auch in
einer Zeit neuerlicher Wachstumseuphorie wie-
der an Attraktivität gewinnen. Schrumpfen ist
wie Wachsen per se nichts Gutes oder Schlechtes,
beides muss sozialverträglich gestaltet werden.
Bleibt zu hoffen, dass die im Koalitionsvertrag
der Regierungsparteien vereinbarte besondere
Berücksichtigung des ländlichen Raumes ihren
Niederschlag im praktischen Handeln findet.
Dr. Bernd Hunger
Referatsleiter
Stadtentwicklung und Wohnungsbau
GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und
Immobilienunternehmen e. V.
Berlin
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