Personalmagazin 7-2018 - page 80

Dynamische Bezugnahmeklausel – Änderung durch Betriebs-
vereinbarung: Mit dieser nüchtern klingenden Überschrift einer
Pressemitteilung zeigt das Bundesarbeitsgericht (BAG) wieder
einmal, dass eine vermeintlich rechtssichere Vertragsgestaltung
stets nur eine Betrachtung des Augenblicks sein kann. Sie steht
schlicht immer unter dem Vorbehalt, dass „die höchstrichter-
liche Rechtsprechung hier nicht zu einem anderen Ergebnis
kommen wird“.
Der Sachverhalt: Die Tragik der Beweislast
Im konkreten Fall wurde der Klage eines Masseurs in einem Se-
nioren- und Pflegezentrum stattgegeben. Dieser hatte reklamiert,
dass sein Arbeitsverhältnis nach den jeweils aktuellen Bestim-
mungen des Lohn- und Vergütungstarifvertrags des öffentlichen
Dienstes (TVöD) abzurechnen sei. Ins Feld führte er dabei eine
arbeitsvertragliche Klausel aus dem Jahre 1992. Damals gab es
besagten TVöD noch gar nicht, vielmehr verwies die Klausel auf
das Vorgängermodell, den Bundesangestelltentarifvertrag (BAT).
Wenige Monate später wurde im Unternehmen die Frage des
Tarifbezugs im Wege einer Betriebsvereinbarung geregelt. Ver-
einbart wurde unter anderem, dass eine Fortschreibung der bis-
herigen einzelvertraglichen Bezugnahme nicht mehr gelten solle.
Insoweit wurde in der Betriebsvereinbarung folgende Regelung
wörtlich aufgenommen: „Alle in der Betriebsvereinbarung ge-
troffenen Bestimmungen setzen die entsprechenden Regelungen
des Arbeitsvertrags außer Kraft.“
Gegenstand des Verfahrens war nunmehr die Frage, ob diese
Betriebsvereinbarung Vorrang hat oder aufgrund des sogenann-
ten „Günstigkeitsprinzips“ unwirksam ist.
Die Auseinandersetzung war für den Arbeitgeber schon des-
wegen eine tragische Situation, weil dieser zum damaligen Zeit-
punkt gar nicht an der Vertragsgestaltung beteiligt war. Er war
ein sogenannter Betriebsübernehmer und damit nach den §§
613a BGB in das Vertragsverhältnis – mit allen dort befindlichen
„Haken und Ösen“ – eingetreten. Betriebsübernehmer, dies hatte
das BAG bereits im Jahre 2010 entschieden, müssen sich jedoch
hinsichtlich Bezugnahmen auf Tarifverträge an Vereinbarungen
des Rechtsvorgängers halten.
Die Vorinstanz: Fragen zur Bezugnahme
Dass die Bezugnahmevereinbarungen rechtlich äußerst schwie-
rig zu bewerten sind, war bereits der gründlichen Auseinander-
setzung der Vorinstanz, des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf,
zu entnehmen. Das LAG hatte als Voraussetzung für die spätere
Änderung einer individualrechtlichen Bezugnahmeklausel durch
Betriebsvereinbarung folgende Voraussetzungen beschrieben:
• Die einzelvertragliche Vereinbarung müsse einen kollektiven
Bezug haben, also keine Einzelfallentscheidung für einen
einzelnen Mitarbeiter sein.
• Aus der individualrechtlichen Vereinbarung müsse sich das
Einverständnis der Parteien ergeben, dass die Bezugnahme in
Zukunft auch imWege einer „Abänderung durch betriebliche
Normen“ verändert werden könne.
Auf beiden Stufen ging es für den Arbeitgeber tragisch weiter:
Er musste einen Sachverhalt vortragen und nachweisen, an
dem er selbst gar nicht beteiligt war. Die damaligen (jahrzehn-
telang zurückliegenden) Umstände werden dabei so gewertet,
als hätte nicht der Vorgänger, sondern er selbst die Gestaltung
durchgeführt.
Geholfen hat dem beweisbelasteten Arbeitgeber an dieser
Stelle das LAG – mit folgender fiktiver Bewertung: Sowohl der
kollektive Bezug als auch das Einverständnis im Sinne der beiden
Voraussetzungen sei auch ohne die Hinzuziehung von Tatsachen
gegeben, weil die frühere individualrechtliche Bezugnahmeklau-
sel als Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) zu qualifizieren
sei. In diesen Fällen sei insbesondere der stillschweigende Wille
der Parteien zu unterstellen, dass derartige Regelungen problem-
los durch kollektivrechtliche Betriebsvereinbarungen wieder ab-
geändert werden können. „Betriebsvereinbarung schlägt frühere
Einzelvereinbarung“, so lautete demnach das klageabweisende
Urteil in der Berufungsinstanz.
Das Urteil: Richter umgehen Fragen des LAG
Wird das BAG diese Argumentation der Vorinstanz übernehmen?
Auf eine entsprechende Antwort wartete die Fachwelt gespannt,
aber leider vergebens. Im Gegenteil: Das BAG hob die Urteile der
Vorinstanz auf, sprach dem Arbeitnehmer einen erklecklichen
Nachzahlungsbetrag zu und stellte fest, dass der Arbeitgeber
auch in Zukunft Entgeltsteigerungen nach dem TVöD weiterge-
ben muss. Eine echte Überraschungsentscheidung.
Denn anstatt sich – wie vielfach erwartet – mit den Argu-
mentationsschritten des LAG im Einzelnen zu beschäftigen,
setzten die Bundesrichter mit einem kurz gefassten Überra-
schungscoup die 16-seitige Begründung des LAG außer Kraft.
Tragisch
kompliziert
Ändert eine Betriebsvereinbarung
eine Bezugnahmeklausel?
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom
12. April 2018, Az. 4 AZR 119/17
Illustration: Lea Dohle
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personalmagazin 07.18
HR-Management
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