Personalmagazin 8/2018 - page 96

Arbeitsrecht ist Richterrecht. Diese Aussage wird geradezu als
Standardfloskel immer dann verwendet, wenn sich ein arbeits-
rechtlicher Streit aufgrund unklarer und damit auslegungsbe-
dürftiger Formulierungen nicht durch einfaches Nachlesen im
Gesetz lösen lässt. Und nicht nur das: Es gibt Fallgestaltungen im
arbeitsrechtlichen Leben, an die der Gesetzgeber nicht oder noch
nicht gedacht hat und bei denen es Aufgabe der Gerichte ist,
derartige planwidrige Lücken zu schließen. In der Geschichte des
Bundesarbeitsgerichts wimmelt es gerade zu von Grundsatzent-
scheidungen, bei denen Gesetzesanwendungen eingeschränkt,
erweitert oder unter Umständen auch die Regelungen eines
bestimmten Gesetzes sogar als „im Arbeitsrecht unanwendbar“
erklärt werden.
Mit anderen Worten: Wer sich allein auf den Gesetzeswortlaut
verlässt, der ist verlassen. Der juristische Grundsatz, dass man
das Gesetz kennen muss, ist im Arbeitsrecht stets wie folgt zu
lesen: Man muss das Gesetz in seiner Interpretation durch das
Bundesarbeitsgericht (BAG) kennen.
Die Ausgangslage: Was der Wortlaut des
Gesetzes hergibt
Dass das Ganze aber mitunter zu weit gehen kann, zeigt die
Geschichte einer Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 Teilzeit- und
Befristungsgesetz (TzBfG). Denn auch zu dieser Norm gab es
eine eher ungewöhnliche Auslegung – bis nun das Bundesver-
fassungsgericht dem BAG in einer aktuellen Entscheidung die
Grenzen richterlicher Kompetenzen aufgezeigt hat.
Begonnen hat alles im Jahre 2011, als der siebte Senat des Bun-
desarbeitsgerichts wieder einmal eine „Richtigstellung“ eines
Gesetzes vornahm (Urteil vom 6.4.2011, Az. 7 AZR 716/097). Es
ging um die Frage, wie das Wörtchen „zuvor“ im Zusammenhang
mit dem Verbot von sachgrundlosen Mehrfachbefristungen zu
verstehen ist. Derartige Befristungen sind bekanntlich nicht
möglich, wenn der betreffende Mitarbeiter „zuvor“ bereits im
selben Unternehmen beschäftigt war.
Nimmt man diese Bestimmung also wörtlich, so wird man
nicht umhinkommen, eine Vorbeschäftigung selbst dann anzu-
nehmen, wenn ein Bewerber – dem beispielsweise eine hochdo-
tierte Stelle als Entwicklungsingenieur befristet angeboten wird
– bereits als Student in demselben Unternehmen als Hilfskraft
im Lager gearbeitet hat. Ein sachgrundlos befristeter Arbeitsver-
trag ist dann nicht möglich. War jedoch eine solche Konsequenz
vom Gesetzgeber tatsächlich gewollt?
Nach Inkrafttreten der sachgrundlosen Befristungsmöglichkeit
zweifelte die Mehrzahl der Fachleute durchaus daran, dass eine
solche Regelung praktisch sinnvoll sei. Gleichzeitig betonten
eben jene Experten immer wieder, dass gegen die eindeutige
grammatikalische Zuordnung des Begriffs „zuvor“ kein Kraut
gewachsen sei. Zumal auch aus den sogenannten Gesetzesmate-
rialien nicht herauszulesen sei, dass der Gesetzgeber den Begriff
zwar verwendet, aber etwas anderes gemeint hatte.
Die „Richtigstellung“: Was „zuvor“ laut dem
BAG wirklich bedeutet
Erstaunen machte sich daher breit, als das Bundesarbeitsgericht
dem Begriff „zuvor“ zu Leibe rückte. Zuvor bedeute nicht zuvor,
sondern in den vergangenen drei Jahren vor Abschluss eines
erneuten sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnisses, so die
Auslegung der Erfurter Richter.
Überraschend, sensationell, bisweilen auch mutig – so wurde
nicht nur in Arbeitgeberkreisen diese Auslegung genannt. Denn
auch der Arbeitnehmerseite war der Begriff „zuvor“ nicht selten
ein Dorn im Auge gewesen. Man denke beispielsweise an den
oben erwähnten Entwicklungsingenieur, dessen Bewerbung mit
der Begründung abgelehnt wird, dass er leider als Student schon
einmal Kisten im Lager des Arbeitgebers gestapelt habe. Warum
sollten die Unternehmen also die Entscheidung des Bundesar-
beitsgerichts – noch dazu mit einem derart praktischen Wert
– nicht einfach akzeptieren und anwenden? Schließlich muss
man sein Handeln doch danach ausrichten können, wenn ein
Bundesarbeitsgericht eine Grundsatzentscheidung fällt.
Die ersten Zweifel: Warum die Arbeitsgerichte
dem BAG widersprechen
So richtig wollte jedoch keine Freude aufkommen nach der
exotischen Befristungsentscheidung. Zu offensichtlich waren
die Bedenken. „Hier ist das Bundesarbeitsgericht zu weit ge-
gangen!“ – auf diesen Nenner ließen sich Überlegungen kriti-
scher Beobachter bringen. Zudem war schnell festzustellen, dass
zahlreiche Untergerichte dem Bundesarbeitsgericht bei dieser
Thematik die Gefolgschaft verweigerten. Sie urteilten konse-
quent entgegen der höchstrichterlichen Befristungsentschei-
dung und prognostizierten: Sobald ein derartiger Fall erneut
vor dem Bundesarbeitsgericht lande, werde das Gericht seine
Rüffel
für das BAG
Bei sachgrundlosen Befristungen
hat das Bundesverfassungsgericht
die Auslegung des Verbots der
Zuvorbeschäftigung zurechtgerückt.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
6. Juni 2018, Az. 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14
Illustration: Lea Dohle
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