DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 5/2016 - page 56

keine Flüchtlinge sind, sondern aus anderen Gründen nach Deutschland
gezogen sind, z. B. weil sie hier einen Arbeitsplatz gefunden haben oder zu
finden hoffen. Die dritte Gruppe schließlich sind die Flüchtlinge.
Natürlich ist es richtig, dass sehr viele Wohnungen gebaut werden müssen.
Wir brauchen jede Menge zusätzlicher bezahlbarer Wohnungen, die für alle
diese drei Gruppen geeignet sind. Doch selbst dann, wenn die Wohnungs-
wirtschaft und private Investoren sofort mit dem Bauen beginnen, wird es
lange dauern, bis diese Wohnungen fertig sind. Diese Zwischenzeit müssen
wir vernünftig überbrücken. Und deshalb vertreten wir als Mieterbund die
Auffassung, dass es erforderlich ist, kurzfristig Wohnraum zu schaffen, der
vielleicht nicht alle Anforderungen erfüllt, die normalerweise an Wohnun-
gen gestellt werden, der es aber ermöglicht, dass anerkannte Asylbewer-
ber und geduldete Flüchtlinge schnell eine Wohnung finden.
Noch einmal: Entscheidend ist, dass diese Wohnungen auf gar keinen Fall
ausschließlich Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden. Das wäre ein
Riesenfehler. Vielmehr sollten allen Men-
schen, die bezahlbaren Wohnraum benö-
tigen, freiwillig – nicht gezwungen! – dort
einziehen dürfen. Ich würde sogar dafür
plädieren, Quoten für beide Gruppen fest-
zulegen.
Einen Aspekt möchte ich noch betonen: Die
Wohnungswirtschaft wird die Aufgabe nicht
alleine bewältigen können. Wir müssen des-
halb alles tun, um private Investoren zur
Mitwirkung zu bewegen. Deswegen ist es richtig, steuerliche Anreize zu
setzen, auch wenn wir vom Mieterbund sonst keine Fans der steuerlichen
Abschreibung sind. Wichtiger als die Frage, bis zu welchen Baukosten diese
steuerliche Förderung gilt, ist für uns die Frage, welche Miete daraus resul-
tiert. Bezahlbarer Wohnraum wird erst dann geschaffen, wenn die steuer-
liche Entlastung an eine Höchstmiete gebunden ist. Erfreulich ist übrigens,
dass wir in der Einschätzung, wie viele Wohnungen gebaut werden müssen,
nicht mehr so weit auseinanderliegen, wie es über viele Jahre der Fall war.
Jetzt teilen auch die Bundesregierung und das Bundesinstitut für Bau-,
Stadt- und Raumforschung (BBSR) die Auffassung, dass wir ca. 400.000
neue Wohnungen pro Jahr brauchen. Insofern können wir hoffnungsfroh
sein, dass es wirklich vorangeht.
„Wir brauchen eine Offensive aller staatlichen Ebenen zur
Schaffung bezahlbaren Wohnraums: für die vielen Men-
schen, die schon lange danach suchen, wie auch für die
Flüchtlinge, die bei uns bleiben dürfen.“
Lukas Siebenkotten
Wir sind Zeugen einer der größten mensch-
lichen Katastrophen seit dem Zweiten
Weltkrieg. Als Wohnungswirtschaftler
müssen wir drei Phasen unterscheiden. Die
erste Phase ist die, in der Notunterkünfte
erforderlich sind für die Tausenden, die
über die Grenze kommen. Dann folgt die
zweite Phase, in der wir Flüchtlingsquar-
tiere als Übergangslösung brauchen. Die
dritte Phase schließlich wirft die für mich
brennendste Frage auf, nämlich die nach der langfristigen Integration der
Flüchtlinge.
Ich möchte aus Österreich berichten: Wir stehen in Wien vor einer beson-
deren Herausforderung, weil wir auch schon ohne Flüchtlingsstrom eine
Wohnungsknappheit sondergleichen haben. In Bezug auf die erste Phase
haben die Zivilgesellschaft und Organisationen wie das Rote Kreuz, der
Samariterbund und die Diakonie bei der Betreuung eine entscheidende
Rolle übernommen. Auch die Administration hat sehr schnell Hilfe geleis-
tet. Wien ist eine soziale Stadt.
Für die zweite Phase gibt es in einzelnen Bundesländern interessante
Programme. In Niederösterreich z. B. ist angekündigt worden, günstige
Wohneinheiten in Fertigbauweise zu errichten. In Vorarlberg gibt es eine
große gemeinnützige Organisation, die leer stehende Wohnungen anmie-
ten und an Flüchtlinge vermitteln soll. Wenn also jemand eine Wohnung
ohne zwingenden Grund leer stehen lässt, dann soll diese Wohnung von
einer gemeinnützigen Bauvereinigung angemietet und Flüchtlingen zur
Verfügung gestellt werden. Und in Wien hat man angekündigt, Pop-up-
Quartiere zu bauen, die kurzfristig errichtet und nach ein paar Jahren
wieder abgebaut werden können. Das ist sicher alles vernünftiger als die
derzeitige Situation, in der Schutzsuchende in Sporthallen und ähnlichen
Einrichtungen untergebracht sind.
Die entscheidende Aufgabe für unsere Unternehmen sehe ich aber in der
dritten Phase. Wir müssen mehrere Jahre vorausdenken und deshalb jetzt
Gas geben und die Bautätigkeit intensivieren. Wenn wir jetzt nicht bauen,
dann wird es in fünf Jahren schlimm werden, weil sich die provisorischen
Zwischennutzungen als soziale Brennpunkte herausstellen werden. Denn
eines ist klar: Es kommen Leute zu uns, die in vielerlei Hinsicht sich erst
einmal an unsere Art zu leben gewöhnen müssen. Und Integration funktio-
niert nirgendwo so gut, so rasch und so intensiv wie am Wohnort. Aber es
muss ein Wohnort sein, an dem die einheimische Bevölkerung in der Über-
zahl ist. Integration funktioniert nicht, wenn lauter Syrer, lauter Türken
oder lauter Pakistani an einem Ort sind. Natürlich helfen auch die Schule
und der Arbeitsplatz bei der Integration, aber die wirkliche Integration
passiert am Wohnort.
In dieser Gemeinschaftsbildung haben gerade Wohnbaugenossenschaften
eine große Tradition. Dabei haben wir die Erfahrung gemacht, dass ein
Anteil von 30% Zuwanderern in einem Haus – und zwar nicht nur von einer
Ethnie – funktioniert, wenn es Gemeinschaftseinrichtungen gibt und wenn
man den Prozess begleitet. Dazu gehört auch, dass man sich von Leuten
trennt, die einfach nicht reinpassen. Aber das Gros der Zuwanderer kann
relativ rasch, das heißt innerhalb von zehn Jahren, dazu gebracht werden,
sich so als Teil der Gemeinschaft zu verstehen, dass das am Ende des Weges
auch der Gesamtgesellschaft guttut.
Prof. Dr. Herbert Ludl, Vorstandsvorsitzender, Sozialbau AG, Wien
Integration funktioniert nirgendwo so gut wie am Wohnort
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MARKT UND MANAGEMENT
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