Wirtschaft und Weiterbildung 5/2019 - page 64

grundls grundgesetz
Boris Grundl
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wirtschaft + weiterbildung
05_2019
„Das sind totale Egoisten“, lautet ein typischer Vor-
wurf, wenn Konflikte festfahren. Als Mediator kenne
ich das. „Die denken nur an ihren Vorteil!“ Die Bli-
cke auf mich sprechen Bände: „Wenn du das nicht
einsiehst, bist du falsch in dieser Schlichtung.“ Ich
frage: „An was soll die Gegenseite eher denken?“
„Na, an uns und unsere Bedürfnisse natürlich!“
In der Mediation sollte jede Partei ihren Teil der
Verantwortung erkennen und tragen, damit eine
Transformation entsteht. Herausfordernd in diesem
Klärungsprozess ist das saubere Erfassen von
Egoismus mit einer klaren Differenzierung zwischen
den drei Krankheiten des Egos:
1.
Egoismus ist ein Mangel an Empathie. Die
Bedürfnisse des anderen werden gar nicht
erkannt. Es fehlt am Können, nicht am Wollen!
2.
Egozentrik heißt ständiges Kreisen um sich
selbst. Empathie wäre vorhanden, aber die per-
manente Selbstbeschäftigung überfährt das
Umfeld.
3.
Egomanie ist die panische Angst, zu kurz zu kom-
men. Ein Weltbild des Mangels, das andere aus
Angst überfährt. In unserer Kultur überwiegt die
Egozentrik.
Im Gegensatz dazu steht die Unterscheidung der
Individualität, der Einzigartigkeit eines Menschen.
Ein wunderbares Geschenk: Jeder Mensch kann
einzigartig sein, wenn er seine Talente zu Stärken
entwickelt und anderen damit dient. Das ist auch
das größte Geschenk, gelingender Demokratie:
das Fördern von Freiheit und Selbstbestimmtheit.
In anderen kulturellen Ansätzen lässt das Kollektiv
weniger Raum zur Entfaltung – wie in einem Amei-
senhaufen. China lebt vor, dass auch dies eine
starke Wirkung erzeugt. In einem Interview eines
chinesischen Professors erschütterte mich seine
ruhig und klar vorgetragene Aussage: „Euer System
ist unserem unterlegen, weil ihr auf Freiheit und
Selbstverantwortung setzt. Das können und wollen
nur die wenigsten.“
Ich möchte diesen Professor nicht moralisch dis-
kreditieren, sondern aus der inneren Auseinander-
setzung mit ihm lernen. Tieferes Nachdenken bringt
mich zu folgendem Schluss: Wenn wir auch künftig
eine starke Rolle als Wirtschaftsnation spielen wol-
len, müssen wir die „Krankheiten des Ichs“ transfor-
mieren, um Individualität und damit Selbstverant-
wortung zu fördern. Eine wahre Herkulesaufgabe,
die kein endgültiges Ziel erreicht. Wir machen es
wie unsere Vorfahren, die sich auf See am Polar-
stern orientiert haben. Auch er war unerreichbar,
aber erlaubte die Navigation im Hier und Jetzt. Mein
Polarstern heißt: „Individualität fördern“.
Ein starkes Individuum mit transformiertem Ich
wird sich klug immer in ein Team einfügen. Die klare
Erkenntnis der eigenen Stärken und Schwächen
macht teamfähig und erfreut sich dankbar
an den Stärken anderer. Nur ein starkes
Ich kann sich in ein Wir ohne Angst trans-
formieren.
Das ist meine Überzeugung und Erfahrung
aus 20 Jahren Arbeit als Coach. Was als
Beruf begann, wurde zur Berufung. Es wäre mir
eine Ehre, wenn auch Sie von jetzt an die Individu-
alität in Ihrem Einflussbereich fördern und darauf
vertrauen, dass sich einige transformieren werden.
Den Schmerz, dass es manchen nicht gelingt, gilt es
auszuhalten. Es lohnt sich aber für jene, die verste-
hen. Ihnen gehört die Zukunft. Sind Sie mit dabei?
Es würde mich sehr freuen.
Paragraf 75
Fördere Individualität,
nicht Egoismus
Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden.
Er gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein jüngstes Buch heißt „Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ (Econ
Verlag, Oktober 2017). Boris Grundl zeigt, wie wir uns von oberflächlichem Schwarz-Weiß-Denken verabschieden. Wie wir lernen, klug hinzuhören, differenzierter
zu bewerten, die Perspektiven zu wechseln und unsere Sicht zu erweitern.
Weiter eine starke Wirtschaftsnation
sein bedeutet: Individualität und
Selbstverantwortung mehr fördern.
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