WIRTSCHAFT UND WEITERBILDUNG 5/2018 - page 64

grundls grundgesetz
Boris Grundl
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wirtschaft + weiterbildung
05_2018
In meinen Seminaren frage ich gern: „Stellen Sie
sich bitte einmal vor, jemand hält Ihnen zwei Tüten
vors Gesicht. In der einen gibt es wahre, innere
Stärke, in der anderen die Fähigkeit, stark zu wer-
den. Welche Tüte wählen Sie?“ Anders: „In der
einen Tüte ein erfülltes, erfolgreiches Leben, in der
anderen die Fähigkeiten dafür. Wohin greifen Sie?“
Oder ganz verwegen: „Greifen Sie zu einer Tüte mit
einer Million Euro oder zu der mit den Fertigkeiten,
diese zu erwirtschaften?“
Die meisten entscheiden sich intuitiv für die Ergeb-
nistüte. Sie denken, sie sind schon etwas und
wollen nichts mehr werden. Bloß nicht mehr lernen,
sondern gleich haben wollen.
Warum ist das so? Erstaunlicherweise führen zwei
Erklärungen zum gleichen Ergebnis. Die erste
haben Sie gerade gelesen. Es ist die Selbstwert-
falle. Da wir bei anderen primär deren Verfehlungen
wahrnehmen, um uns selbst wertvoller zu fühlen,
erliegen wir einer Illusion der Überlegenheit. Also
steht uns jetzt mehr zu. Alles andere ist ungerecht.
Die zweite Erklärung ist die Selbstvertrauensfalle.
Im Herzen trauen wir uns nicht zu, die Ergebnisse
aus eigenem Vermögen erzielen zu können. Ler-
nen? Bringt eh nichts, ich kann ja sowieso nichts
machen. Wir erliegen einer Illusion der Unterle-
genheit. Darum wollen wir jetzt schon mehr sein,
tolle Ergebnisse ohne Wachstum und Anstrengung
haben. Soweit die Thesen.
Begeben wir uns in die Realität. „Ungerecht! Wie
konnte der Chef nur den anderen befördern? Sieht
er nicht, dass ich viel besser bin?“ Oder: „Frechheit,
die kriegt nur so viel Einfluss, weil sie sich dauernd
einschmeichelt.“ Bei anderen solche Impulse zu
erkennen, ist natürlich leichter als bei sich selbst.
Denn oft (nicht immer, denn es gibt ja auch tatsäch-
liche Ungerechtigkeit) ist der Übergangene nur im
Selbstbild und im Anspruchsdenken größer als der
Belohnte. Doch wie reagiert er? Mangels eigener
Stärken zählt er vermeintliche Schwächen des
anderen auf. Er macht sich größer, indem er andere
kleinmacht. Ein natürlicher Enttäuschungsimpuls –
aber falsch und gefährlich, weil er Entwick-
lung verhindert. Was können wir daraus
lernen?
In jeder Niederlage spricht das Leben
zwei Einladungen aus. Die eine ist, sich
über himmelschreiende Ungerechtigkeit
zu beschweren und sich eine falsche Größe anzu-
dichten. Eine Einladung, sich nicht zu entwickeln.
Die andere ist, die Situation und sich selbst mutig
zu hinterfragen: „Was haben die Beförderten, das
mir noch fehlt? An welchen Kriterien kann ich noch
wachsen?“ Diese Einladung ist schwerer anzuneh-
men – weil ich mich meinen Defiziten stellen muss.
Sie ist die Einladung, meine nächste Entwicklungs-
stufe in Angriff zu nehmen.
Auf den Punkt gebracht: Was durch Ablehnung
sichtbar wird, ist ein Mangel. „Nein“ heißt selten
nie. Sondern meistens „so nicht“ oder „noch nicht“.
Eine Aufforderung zu wachsen. Den erlebten Man-
gel als „das ist halt nicht mein Talent“ schönzure-
den, ist menschlich verständlich, doch wird mit Sta-
gnation belohnt. Statt uns in diesen wunderbaren
Entwicklungsraum des Schmerzes hineinzubewe-
gen, ziehen viele sich in den engen Schmollwinkel
zurück und verkümmern dort.
Das Kluge an dieser Einladung: Wir haben die Wahl,
welche Sichtweise wir wählen. Gestatten Sie mir
eine Frage: Zu welcher Tüte greifen Sie jetzt?
Paragraf 65
Hüte dich vor gefühl-
ter Ungerechtigkeit!
Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden.
Er gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein jüngstes Buch heißt „Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ (Econ
Verlag, Oktober 2017). Boris Grundl zeigt, wie wir uns von oberflächlichem Schwarz-Weiß-Denken verabschieden. Wie wir lernen, klug hinzuhören, differenzierter
zu bewerten, die Perspektiven zu wechseln und unsere Sicht zu erweitern.
Mangels eigener Stärken zählt man
gern die vermeintlichen Schwächen
eines anderen auf.
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