Wohnungspolitische InformationenI 46/2017 - page 2

BUNDESPOLITIK
das, obwohl die schrumpfenden Regionen
heute in weiten Teilen durchaus wirtschaft-
lich stark sind und verbreitet eine arbeits-
marktbedingte Abwanderungsnotwen-
digkeit nicht existiert. Vielmehr klagen die
dortigen Unternehmen über Fach- und
Arbeitskräftemangel, der sich aufgrund der
Abwanderung beständig verschärft. Die
Entleerung ländlicher Räume lässt sich also
nicht mit dem oft beschworenen Dreiklang
von Arbeitslosigkeit, Armut und Abwan-
derung erklären. Ursache ist vor allem eine
Spätfolge der demografischen Entwick-
lung: Die infolge des Pillenknicks schwä-
cher besetzten Geburtsjahrgänge seit den
1970er Jahren waren die ersten, die sich
in den sogenannten Schwarmstädten
konzentriert haben, wodurch die Dichte
an Gleichaltrigen annähernd gleichmä-
ßig über Deutschland gesunken ist. In den
Schwarmstädten herrscht dagegen Urba-
nität, Vielfalt, Dichte und Lebendigkeit.
Die Folge ist auch ein neues Pendlermus-
ter: morgens aus der Schwarmstadt zum
Arbeitsplatz und abends wieder hinein.
„Um die demografische Spaltung Deutsch-
lands, schrumpfende Einwohnerzahlen in
ländlichen Räumen und den Verlust der
regionalen Kultur zu verhindern, brauchen
wir Ankerstädte. Diese gilt es, strukturell
zu stärken und baukulturell aufzuwerten“,
erklärte Nagel. Darunter sind diejenigen
Städte zu verstehen, die ihre historische
Funktion als zentraler Handels-, Kommu-
nikations- und Begegnungsraum in den
vergangenen Jahrzehnten erhalten und
ausgebaut haben.
Polyzentralität als Leitbild
„Polyzentralität muss in Deutschland zum
Leitbild werden“, forderte Gedaschko.
„Wohnstandorte sind langfristig nur attrak-
tiv, wenn die Versorgung mit Einkaufsmög-
lichkeiten, die medizinische Infrastruktur,
kulturelle Einrichtungen und Bildungsan-
gebote vorhanden sind.“ Dafür müssten
Raumordnung und Regionalplanung neu
ausgerichtet und gestärkt werden. „Wir
brauchen geeignete Förderstrukturen, um
die Attraktivität der Abwanderungsregio-
nen zu stärken und dadurch den Zuwande-
rungsdruck auf die Metropolen abzuschwä-
chen“, so der GdW-Chef. Nur so könne die
Wohnungswirtschaft den zunehmenden
Spagat zwischen Wohnungsknappheit in
den Metropolregionen und Leerständen in
den ländlichen Räumen bewältigen. Ange-
sichts der bevorstehenden zweiten Leer-
standswelle in Ostdeutschland sei auch
Abriss in demografisch schrumpfenden
Regionen in den nächsten Jahren unver-
zichtbar.
„Ortsspezifisches Bauen stärkt die lokale
Identität“, so Nagel. Die Ortskerne in länd-
lichen Räumen müssen gestärkt und dafür
die die wesentlichen Infrastrukturen und
die verfügbaren Investitionsmittel zuguns-
ten der Ortsmitte gebündelt werden. Die
gesetzlichen Rahmenbedingungen und die
wohnungspolitische Förderung des Bundes
sollten deshalb auf integrierte Lagen aus-
gerichtet werden: für Kauf und Sanierung,
Bestandsumbau, Ergänzungs- und Ersatz-
neubau.
„Ankerstädte brauchen eine aktive Boden-
politik“, sagte Gedaschko. Dafür seien stär-
kere Eingriffsrechte bei der Stadtentwick-
lung als bisher notwendig. So sollte zum
Beispiel das Zusammenlegen von zu klei-
nen Grundstücken sowie die Bereinigung
nicht mehr funktionsfähiger Grundstücks-
flächen und Gebäudegrundrisse ermög-
licht werden. Die Kommunen sollten ihr
Vorkaufsrecht in besonderen Lagen häufi-
ger einsetzen und mit Hilfe revolvierender
Bodenfonds Entwicklungen in Gang setzen.
Wohneigentumsförderung sollte nur für
den Erwerb, den Umbau und Sanierung
oder Ersatzneubau von selbstgenutzten
Wohneigentum gewährt werden. Neu-
bau am Stadtrand nährt nur den „Donut-
Effekt“ in der Ortsmitte – also Leerstand
in Zentrum und Zersiedlung ins Umland.
Immer neue Baugebiete an den Ortsrän-
dern können deshalb dazu führen, noch
halbwegs funktionierende Innenstädte zu
beschädigen, so Nagel und Gedaschko.
Von Smart City zu Smart Country
„Wir brauchen nicht weniger als einen
nationalen Plan: eine neue Raumordnung,
Steuer- und Förderpolitik, Infrastruktur-
entwicklung und digitale Anwendungen
auf Basis eines schnellen Internets“, so
der GdW-Chef. Flächendeckend schnel-
les Internet sei wesentliche Grundlage
für gleichwertige Lebensbedingungen.
„Langsames Internet wird in Deutschland
zum Turbo für die Landflucht“, mahnte
Gedaschko. „Gerade bei höheren Band-
breiten droht eine dauerhafte digitale Spal-
tung: schnell in der Stadt, langsam auf dem
Land. Diese digitale Spaltung verstärkt die
zunehmende demografische Spaltung
unseres Landes enorm“, so der GdW-
Chef. Schnelles Internet sei dabei kein
Selbstzweck, sondern zwingende Voraus-
setzung für eine Teilhabe am gesellschaft-
lichen Leben – so wie Wasser, Strom und
Heizung. Der Ausbau der digitalen Infra-
struktur in den ländlichen Räumen müsse
deshalb absoluten Vorrang haben. Hinzu
kommt: Deutschland ist bei den digitalen
Anwendungen nahezu Schlusslicht. Hier
muss sich etwas ändern, ansonsten nutzt
auch das beste Netz nichts.
Konzentration von Fördermitteln
Damit sich Deutschland nicht in boomende
Hotspots und ländliche Regionen auf dem
Abstellgleis spaltet, fordern die Wohnungs-
wirtschaft und die Bundesstiftung Baukul-
tur von einer neuen Bundesregierung eine
zweckgebundene Vergabe von deutlich
mehr Fördermitteln, weg von der „Gieß-
kanne“ hin zu einer Konzentration der
wenigen Mittel auf die zukunftsfähigen
Kommunen. „Wer die Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse mit einer Gleichbehand-
lung von Kommunen verwechselt, erreicht
letztlich nur eines: ein gemeinsames Absin-
ken auf ein noch niedrigeres Niveau“, so
Gedaschko.
Die Gleichwertigkeit der Lebensverhält-
nisse in Regionen außerhalb der Metro-
polen müsse auch durch ungleiche Maß-
nahmen ermöglicht werden, zum Beispiel
durch selbstorganisierte Prozesse der Ver-
sorgung und Mobilität. Ein Beispiel seien
hier multifunktionale Dorfläden, in denen
unterschiedliche Dienstleistungen gebün-
delt werden – von Lebensmitteln über
Paketannahme bis hin zu Reinigung, Kfz-
Zulassungen, Handwerkerdienste sowie
Beratungs- und Gesundheitsangebote.
Um diese individuellen, lokal differenzier-
ten Maßnahmen zu ermöglichen, sind drin-
gend Öffnungsklauseln für bestehende
Vorschriften und Regulierungen in den
strukturschwächeren Regionen notwen-
dig. Außerdem sollte das bürgerschaftli-
che Engagement in der Nachbarschaftshilfe
als eigenständiger gemeinnütziger Zweck
steuerlich anerkannt werden.
(schi)
Das Hintergrundpapier „Wohnen und Bau-
kultur nicht nur in Metropolen“ finden Sie unter
diesem Kurz-Link:
das ausführliche Strategie-Booklet der
Wohnungswirtschaft „Was für die nächsten
4 Jahre wichtig ist“ unter
Alles Weitere unter web.gdw.de/pressecenter
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Mehr politische Aufmerksamkeit für das Land –
ein Motiv der GdW-Imagekampagne
Foto: GdW
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