personalmagazin 03/2016 - page 66

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RECHT
_MASSENENTLASSUNG
personalmagazin 03/16
M
eist bedeutet es weniger
Rechtssicherheit für Arbeit-
geber, wenn der Europäi-
sche Gerichtshof (EuGH)
mal wieder eine andere Entscheidung
trifft, als dies nach gesicherter Recht-
sprechung des Bundesarbeitsgerichts
(BAG) der Fall gewesen wäre. Zuletzt gab
es gerade im Bereich der Massenentlas-
sungsverfahren diesbezüglich wichtige,
vielleicht sogar bahnbrechende Entschei-
dungen des EuGH, beispielsweise zum
Entlassungs- und auch zum europäischen
Arbeitnehmerbegriff.
Nach diesen Entscheidungen stellten
sich für Unternehmen wichtige Fragen:
Führen sie zur generellen Ausweitung
der Arbeitnehmerschutzrechte auf
Geschäftsführer? Bedeutet auch die
Wertung von Aufhebungsverträgen als
Entlassung möglicherweise eine Ände-
rung der BAG-Rechtsprechung?
Grundlage bei Massenentlassungen:
Die Voraussetzungen des § 17 KSchG
Grundsätzlich stellt § 17 Kündigungs-
schutzgesetz (KSchG) für Massenentlas-
sungen mehrere Wirksamkeitsvorausset-
zungen auf, wenn je nach Betriebsgröße
innerhalb von 30 Kalendertagen ein be-
stimmter Schwellenwert an Entlassungen
erreicht wird. In kleineren Betrieben von
mehr als 20 und weniger als 60 Arbeit-
nehmern kann dies schon bei Entlassun-
gen von mehr als fünf Arbeitnehmern der
Fall sein. § 17 KSchG schreibt vor:
• Der Arbeitgeber muss – zeitlich vor
den Entlassungen – eine Massenentlas-
Von
Alexandra Henkel
sungsanzeige bei der Agentur für Arbeit
erstatten, § 17 Abs. 1, 3 KSchG.
• Bei vorhandenem Betriebsrat ist die-
ser rechtzeitig (zwei Wochen vor Anzei-
ge) zu konsultieren, § 17 Abs. 2 KSchG.
Maßgeblich für das Erreichen der
Schwellenwerte sind die in der Regel be-
schäftigten Arbeitnehmer. Nach bishe-
riger Rechtsprechung des BAG gilt hier
der normale nationale Arbeitnehmer-
begriff. Nach § 17 Abs. 5 KSchG waren
bislang sogar ausdrücklich die Organ-
mitglieder einer juristischen Person –
und damit auch GmbH-Geschäftsführer
– keine Arbeitnehmer im Sinne dieser
Vorschrift. Da in § 17 KSchG jedoch die
europäische Massenentlassungsrichtli-
nie umgesetzt ist, sind nicht nur die na-
tionale Rechtsprechung, sondern auch
die EuGH-Vorgaben zu beachten.
EuGH: Aufhebungsverträge mit
Kündigungen gleichstellen?
Und dieser EuGH entschied (Urteil vom
11. November 2015, Az. C – 422/14),
dass unter bestimmten Voraussetzun-
gen auch Aufhebungsverträge zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Ent-
lassung im Sinne der Massenentlas-
sungsrichtlinie gelten. In diesem Fall
argumentierte der klagende Arbeitneh-
mer, dass seine Entlassung unwirksam
sei. Die Begründung: Der Arbeitgeber
hätte ein – in dem Fall nicht erfolgtes
– Verfahren bei Massenentlassungen
durchführen müssen. Entscheidend war
die Frage, ob auch Aufhebungsverträge
und auslaufende Befristungen als Ent-
lassungen für das Auslösen der Schwel-
lenwerte mitzählen.
Der EuGH entschied, dass unter ei-
ner Entlassung grundsätzlich nur die
einseitige Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses oder Änderung wesentlicher
Arbeitsbedingungen durch den Arbeit-
geber erfasst sei, die ohne Zustimmung
des Arbeitnehmers erfolgen und nicht
durch Gründe in der Person des Ar-
beitnehmers veranlasst sind. Auch ein
Aufhebungsvertrag, den ein Arbeitneh-
mer gezwungenermaßen unterzeichnen
müsse, wenn der Arbeitgeber zuvor we-
sentliche Arbeitsbedingungen einseitig
verschlechtert habe (im konkreten Fall
ging es um die Kürzung des Festgehalts
um 25 Prozent aus wirtschaftlichen
Gründen), sei aber als Entlassung zu
werten. Befristungsauslauf ist dagegen
nach wie vor keine Entlassung.
Tipp zum Entlassungsbegriff: BAG
sollte weiterhin der Maßstab sein
Auf den ersten Blick erscheint die EuGH-
Rechtsprechung enger als die zu § 17
Abs. 1 Satz 2 KSchG bestehende stän-
dige Rechtsprechung des BAG. Für die
obersten deutschen Arbeitsrichter zählen
alle vom Arbeitgeber veranlassten Auf-
hebungsverträge – und damit auch die
dreiseitigen Verträge bei Wechsel in eine
Transfergesellschaft – und sogar arbeit-
geberseitig veranlasste Eigenkündigun-
gen des Arbeitnehmers zu Entlassungen
im Sinne des § 17 KSchG – genauso wie
im Übrigen Änderungskündigungen.
Im Moment bleibt daher die Frage, ob
diese BAG-Rechtsprechung weiter fortbe-
stehen kann oder geändert werden muss.
Eine Anpassung könnte dergestalt ge-
schehen, dass Aufhebungsverträge nur
Arbeitnehmer oder nicht?
ÜBERBLICK.
Der EuGH hat zuletzt wichtige Entscheidungen zu Massenentlassungen
getroffen – und dadurch jedoch die gesicherte Rechtsprechung des BAG gekippt.
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