PERSONALquarterly 4/2016 - page 54

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_DIE FAKTEN HINTER DER SCHLAGZEILE
PERSONALquarterly 04/16
E
s klingt dramatisch, wie die Welt am 19.6.2016 ein In-
terview mit OECD-Chefvolkswirtin Catherine Mann
betitelt: „Jeder vierte Arbeitnehmer steckt im fal-
schen Job.“ Und das in Deutschland. Das behindere
das Produktivitätswachstum, das sich in den vergangenen 20
Jahren in ganz Europa mehr als halbiert habe und bedrohe den
Lebensstandard. Die OECD kritisiert Deutschland wiederholt
dafür, dass zu viele Beschäftigte ihr Know-how brachliegen
lassen, weil sie überqualifiziert für ihre Jobs sind. Darunter
sind vor allem auch Frauen mit qualifizierten Berufsabschlüs-
sen und akademischen Weihen auf Teilzeitstellen, die, um Be-
ruf und Familie zu vereinbaren, unter ihrem Niveau arbeiten.
Gleichzeitig seien Berufsausbildung und Arbeit zu statisch
ausgelegt und nicht auf Flexibilität und Mobilität ausgerich-
tet. In ihrem diesjährigen Deutschland-Bericht mahnen die
OECD-Autoren an, die Anstrengungen in der Akademisierung
und in der Weiterbildung zu erhöhen.
Finanzieller Spielraum für lebenslanges Lernen
Professor Andreas Wörgötter, der 16 Jahre lang bei der OECD
in Paris für Deutschland zuständig war und unter dessen Lei-
tung der Wirtschaftsbericht im Frühjahr verfasst wurde, hält
das deutsche Bildungssystem mit der starken Betonung der
dualen Ausbildung durch den leichteren Berufseinstieg sowie
breitere Karrieremöglichkeiten für überlegen, solange sich Be-
rufsbilder, Wirtschaftsstrukturen und die regionale Verteilung
der Beschäftigung nicht allzu schnell ändern. Das Berufsbil-
dungssystem fördere lange Betriebszugehörigkeiten. Die Kon-
zentration auf die exportorientierte Warenproduktion komme
diesen Bedingungen entgegen, weil Technologien stabil sind,
inkrementelle Innovationen gegenüber radikalen Innovationen
dominieren und die Möglichkeit, Maschinen und Anlagen als
Pfand im kreditbasierten Finanzierungssystem einzusetzen,
mittlere Familienunternehmen begünstigt. „Das war sehr lan-
ge ein erfolgreiches Modell“, betont Wörgötter. Probleme begin-
nen seiner Ansicht nach, wenn sich die Arbeitswelt in weniger
als einer Generation ändert und Arbeiter, die ihren Job verloren
haben, keine Arbeit mehr finden, weil ihre Qualifikationen
nicht mehr gebraucht werden. „Wenn Beschäftigte häufiger
auf den Arbeitsmarkt müssen, ist das System zu starr“, so
Die geringe Arbeitslosigkeit in Deutschland darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass
Aus- und Weiterbildung das Tempo des Wirtschaftswandels stärker antizipieren muss.
Staat soll Weiterbildung fördern
der Ökonom – und verweist auf die auffällig große Langzeit­
arbeitslosigkeit bei einer insgesamt geringen Arbeitslosigkeit.
Er sieht sowohl die Notwendigkeit als auch den Spielraum für
eine stärkere Förderung des lebenslangen Lernens. Für den
Ökonomen Wörgötter liegt es auf der Hand, dass der Staat
stärker in die Qualifizierung einsteigen muss: „Sonst zahlt der
Staat in zukünftige Beihilfenkarrieren.“
Erwachsenen- und Weiterbildung falsch gesteuert
Obwohl Professor Bernd Käpplinger, Erziehungswissenschaft-
ler an der Universität Gießen, an den OECD-Berichten bemän-
gelt, dass sie die angelsächsischen Bildungssysteme oft implizit
als Benchmark sehen – mit einer gewünscht hohen Akademi-
kerquote und dem BA-/MA-System zum Beispiel – will auch
er das lebenslange Lernen mit Steuergeldern fördern. „In den
letzten Jahren nehmen bildungsständische Tendenzen wieder
eher zu als ab“, meint der Hochschullehrer. „Da wird viel Po-
tenzial verschenkt.“ Die Erwachsenen- und Weiterbildung sei
in vielerlei Hinsicht unterfinanziert und seiner Meinung nach
unter anderem durch eine Ökonomisierung und Quasi-Märkte
mit diversen Qualitätssiegeln falsch gesteuert. Der Bildungs-
wissenschaftler spricht sich für Durchlässigkeit und Chancen-
gerechtigkeit aus und greift sogar eine heilige Kuh aktueller
Bildungspolitik an: die Förderung der Jüngsten. „Der Frühför-
derungswahn verschärft die Bedingungen für die Erwachse-
nenbildung“, sagt Professor Käpplinger. Schließlich ist es eine
Binsenweisheit, dass jeder Euro nur einmal ausgegeben wer-
den kann – also umgeschichtet wird. Die Bertelsmann Stiftung
hat 2015 gemeinsam mit Bildungsforschern der Universität
Duisburg-Essen Zahlen veröffentlicht, die Bernd Käpplinger
bestätigen. Die öffentliche Förderung der Weiterbildung ist in
den vergangenen Jahren um 41 Prozent zurückgegangen, seit
15 Jahren stagniert die Beteiligung an der Weiterbildung. Die
Weiterbildungskosten werden privatisiert. Sowohl einzelne
Beschäftigte als auch Firmen investieren. Aber es gibt, so die
Studienautoren, Verlierer dieser Entwicklung: Geringqualifi-
zierte und atypisch Beschäftigte, also Arbeitnehmer in Teilzeit,
in befristeten Jobs und mit Zeitarbeitsverträgen.
Forscher Käpplinger hat mit Kollegen die Förderpraxis der
Weiterbildung untersucht, in der Gutscheine, Stipendien, Darle-
Ruth Lemmer
, Freie Wirtschaftsjournalistin, Düsseldorf
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