wirtschaft und weiterbildung 10/2018 - page 62

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wirtschaft + weiterbildung
10_2018
Nadine Schmidt
hot from the US
Das aktuelle Buch der Oxford-Professorin Merve
Emre entlarvt eindrucksvoll die bizarren Hinter-
gründe der Entstehung des MBTI. Im Mittelpunkt
stehen die Biografien zweier exzentrischer Frauen
sowie die wendungsreiche und durchaus unterhalt-
same Geschichte der Persönlichkeitspsychologie
des 20. Jahrhunderts. Der MBTI ordnet Menschen
in genau 16 unterschiedliche Persönlichkeitstypen
ein, die sich durch ihre Verhaltenspräferenzen
unterscheiden sollen.
Es ist kaum zu glauben, dass der MBTI, eines der
meist genutzten Persönlichkeitsinventare der Welt,
von einer ambitionierten Hobby-Psychologin in
Heimarbeit erfunden wurde. Katharine Cook Briggs
(1875 – 1968), die mit ihrer Rolle als Hausfrau und
Mutter haderte, fing eines Tages an, die Entwick-
lung ihrer Tochter Isabel aufzuzeichnen. Die Lektüre
von Carl Gustav Jung, den sie geradezu obsessiv
verehrte, führte zu einer entsprechenden Ausrich-
tung ihrer Arbeit. Durch Befragung von Familie und
Nachbarn verbesserte sie ihren Ansatz, Menschen
in Schubladen zu stecken. So mutet es fast absurd
an, dass heute Unternehmen für Recruiting und Kar-
riereentwicklung einen Fragenkatalog nutzen, der
unter anderem dadurch geprägt wurde, dass Katha-
rine die Träume ihres Ehemanns auf Karteikarten
notierte und diese Aufzeichnungen unter anderem
dann dazu nutzte, die Beschreibung ihrer Typen zu
verbessern und an der Formulierung der Fragen
zu feilen, die für die Selbsteinschätzung benötigt
wurden. Die Weiterentwicklung und Verbreitung des
Instruments übernahm später ihre Tochter Isabel
Myers, deren Unternehmertum die Voraussetzung
für den heutigen Erfolg war. Obwohl früh klar war,
auf welch schwacher Basis der MBTI steht, wurden
immer wieder einflussreiche Unterstützer
gefunden.
Das Buch sollte zur Pflichtlektüre all
derer werden, die mit dem MBTI arbeiten.
Es winkt die Erkenntnis, dass der MBTI
zwar nützliche Nebeneffekte haben kann
(Menschen beginnen, sich für Psychologie zu inte-
ressieren), dass aber zum Verständnis der eigenen
Persönlichkeit der MBTI nicht mehr beiträgt als ein
Horoskop in einer Fernsehzeitschrift. Wenn man
Coachs fragt, warum sie für viel Geld eine MBTI-
Lizensierung erwerben, hört man meist, dass sie
darüber leicht mit Klienten in Kontakt kämen (Stich-
wort: Anschlussfähigkeit). Wer das tut, steht auf
dem wackeligen Boden von Scheinsicherheit. Denn
die Persönlichkeit ist nichts, was vorliegt und typi-
siert werden könnte – sondern etwas Dynamisches.
Für die Persönlichkeitsentwicklung sind deshalb
auch nicht Verhaltenspräferenzen interessant, son-
dern die dahinter liegenden Muster und Logiken.
Es wäre wünschenswert, dass mehr Coachs, Trainer
und Berater den Verlockungen von Tools widerste-
hen und sich und ihre Kunden von Anfang an mehr
fordern – und damit auch der unsäglichen Lizensie-
rungspraxis dieser Tools entgegentreten.
Irritierende Geschichte des Myers-Briggs Type Indicator (MBTI)
Heimarbeit
Nadine Schmidt, München, arbeitet als international tätige Beraterin und Executive Coach (Mail:
hat unter anderem an der UC
Berkeley studiert und ist Alumna und Lecturer am CDTM (Center for Digital Technology & Management). Sie begleitet Organisationen und Führungsteams bei der
Gestaltung der Zukunft. In regelmäßiger Abfolge stellt sie an dieser Stelle neue Fachbücher aus den USA vor, deren Lektüre sich für unsere Leser lohnt.
Foto: Kay Blaschke
Merve Emre:
„The Personality
Brokers. The Strange History
of Myers-Briggs and the Birth
of Personality Testing”,
Doubleday, New York 2018,
336 Seiten, 21 Euro
Interessant ist nicht das Verhalten,
sondern das dahinter liegende
Muster.
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