training und coaching
40
wirtschaft + weiterbildung
10_2015
kann sich der Coachee Zeit nehmen, sich
in diese Instanz einzufühlen und die ge-
äußerten Worte der anderen Instanz auf
sich wirken zu lassen. Der Coach muss
den Prozess also durch Entschleunigung
unterstützen.
Den Richter einfach
„rausschmeißen“?
Die Unterstützung fängt jedoch schon frü-
her an, indem der Coach dem Coachee
noch vor dem Dialog mit dem Richter
hilft, den Lernbedarf des Richters zu defi-
nieren (hierzu sind vor allem die Erkennt-
nisse des Realitätschecks hilfreich, aber
auch die Wirkungen auf das wahre Selbst
und die Schmerzen des attackierten klei-
nen Ichs) und eine Vorstellung von einer
guten Kooperation mit dem Richter zu
finden. Viele Coachees würden den Rich-
ter gerne rausschmeißen, was nicht geht.
Somit braucht er eine konstruktive Rolle,
die einem beratenden Freund im Hinter-
grund nahekommt und die übermächtige
Destruktivität bisheriger Richter-Interven-
tionen ausschließt. Dem erwachsenen Ich
reicht auch ein freundlicher Hinweis, um
etwas ernsthaft zu überprüfen. Auch das
ist schon etwas, was der Richter noch
nicht erkannt hat. Er denkt meist immer
noch, dass wir uns lebensunfähig wie ein
Sechsjähriger durch den Tag baumeln las-
sen, wenn er nicht auf uns aufpasst.
Der Dialog fängt immer auf dem Stuhl
des wahren Selbst an. Interessant ist oft
die Antwort des Richters auf die Frage
„Warum tust Du das eigentlich alles?
Wozu hältst Du mich an diesen Regeln
fest? Wieso machst Du mich oft so run-
ter?“ In meinen Coachings findet hier oft
die Transformation statt: Der Richter ant-
wortet zum Beispiel, dass er ja nur will,
dass es dem Menschen besser geht, oder
dass dieser nie wieder so was erleiden
muss wie in der Kindheit. Diese Antwort
verändert alle Vorzeichen: Der bisher als
Feind Wahrgenommene wird als Alliier-
ter erkannt und seine Angst nimmt ihm
die Übermächtigkeit. Dann kann die Ver-
handlung zur künftigen Kooperation be-
ginnen. Bei Christina lautete das dann so:
„Wenn Du also möchtest, dass es mir gut
geht, dann unterstütz‘ mich bitte auch
dabei und lass diese blöden Attacken.
Und hör auf, alte Pauschalurteile über
mich zu kippen. Ich weiß, was ich in den
letzten zehn Jahren erreicht habe und das
habe ich trotz dir erreicht, nicht wegen
dir. Wenn du denkst, dass etwas für mich
gefährlich wird, kannst du das leise an-
merken, aber lass mir die Überprüfung
und Entscheidung. Ich krieg mit, was
draußen los ist, du kennst ja nur deine
Patentrezepte. Bitte hilf mir eher, Kritik
zu differenzieren und nur den Teil zu
nehmen, der wirklich mir gehört. Dann
können wir ja gemeinsam überlegen, was
wir damit machen. Wenn Du mir zeigst,
dass Du an mich glaubst, kann ich das
viel besser umsetzen.“
Vereinbarungen zwischen
„Richter“ und „wahrem Selbst“
Diese Dialoge sind sehr individuell. Hier
ist es auch schon vorgekommen, dass der
Richter den Dialog verweigert. Als ich
einmal auf seine Aussage „Reden bringt
nichts!“ nachfragte, woher er das denn
weiß, schließlich hätte „sein Mensch“ ja
noch nie mit ihm direkt geredet, wusste
er keine Antwort. Als ich dann mit einer
Hypothese weiter fragte, ob er diese Er-
fahrung mit dem Vater seines Menschen
gemacht hätte, sagte er sofort „Ja“. Durch
diese Differenzierung war der Widerstand
überwunden und ein erstes Gespräch war
möglich, wenn auch mit einem immer
noch sehr rigiden Richter. Manche Rich-
ter sind Argumenten und Logik gegen-
über offen, andere können sich inhalt-
lich den Argumenten nicht erwehren
oder energetisch der Entschlusskraft des
wahren Selbst, bleiben aber skeptisch
oder trotzig. Dann ist es am hilfreichsten,
wenn wahres Selbst und der innere Rich-
ter eine Testphase vereinbaren und eine
wahrhaftige und faire gemeinsame Aus-
wertung. Wie bei einer Verhandlung zwi-
schen realen Personen kann der Coach
hier unterstützen, dass es eine ernsthafte
Vereinbarung gibt und nicht einen ober-
flächlichen Deal, der dann vom Richter
sowieso wieder sabotiert wird.
Das wäre ihm ja schließlich am liebsten,
wenn er erreichen könnte, dass alles so
bleibt, wie es ist. Die Erhaltung des Status
Quo ist das, was er will. Er argumentiert
dazu gerne mit „Was hast du denn? So
schlecht sind wir doch gar nicht gefah-
ren bisher. Aus dir ist doch was gewor-
den. Willst du das jetzt alles aufs Spiel
setzen?“ Wenn der Richter nicht auf
stur schaltet und die Argumente an sich
heranlässt, ist er sogar manchmal ver-
zweifelt, fühlt sich arbeitslos. Hier hilft
es sehr, gleich zu definieren, wie er hilf-
reich sein kann, zum Beispiel in der alten
Richtung mit netten Hinweisen statt mit
fertig-machenden Attacken oder in die
neue Richtung, zum Beispiel mit Unter-
stützung zum Wahrnehmen der eigenen
Grenzen.
Ziel: Autonomer werden
Der Dialog hat das Potenzial, die Rollen
zu verändern, analog der in den meis-
ten Familien irgendwann stattfindenden
Machtübernahme der erwachsenen Kin-
der, die jetzt ihre alternden Eltern an die
Hand nehmen, um ihnen über die Straße
zu helfen. Hat dies stattgefunden, ist die
operative Umsetzung der Coaching-Ziele
meist ein Kinderspiel und der Coachee
braucht nicht mehr viel Unterstützung
dafür vom Coach. Jetzt ist das wahre
Selbst erwacht und ermächtigt. Der
Mensch wird dadurch klarer in seinen
Wahrnehmungen, autonom in seinen
Meinungen und erlebt wesentlich mehr
inneren Frieden.
Cornelia Weber-Fürst
R
Cornelia
Weber-Fürst
ist selbstständig
als ICF-Coach,
Trainerin
und
Beraterin tätig. Sie ist Hauptauto-
rin des Buchs „Potenzialorientiertes
Coaching – Ein Praxishandbuch“, Co-
Autorin des Buchs „A World Book of
Values“ und bietet das Thema „inne-
rer Richter“ und weitere Themen in
Einzel-Coachings sowie in einem
Triple-A-Leadership-Programm an.
Cornelia Weber-Fürst
Coaching – Training – Beratung
Döllingerstr. 16a
80639 München
Tel. 089 17117850
AUTORIN