training und coaching
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wirtschaft + weiterbildung
10_2015
liche Figur, für andere eher weiblich, un-
abhängig vom eigenen Geschlecht. Einige
können sich den Richter am ehesten als
geschlechtsunspezifische Kreatur vor-
stellen. In meiner Coaching-Praxis sind
als Richter-Figuren schon aufgetaucht:
Eine Gouvernante (à la Fräulein Rotten-
meier in Heidi), ein Abraham Lincoln, ein
Ninja-Kämpfer, ein Jack Sparrow (Johnny
Depp in „Fluch der Karibik“), eine Helga,
ein Galeerentrommler, ein kleiner häss-
licher Gnom, ein übergroßer Mann mit
Stock in der Hand, ein Schläger-Typ mit
ins Gesicht gezogener Sweatshirtjacken-
Kapuze, eine alte snobistische Dame im
Tweet-Kostüm.
Die Worte des Richters von den eigenen
Gedanken zu differenzieren, braucht
manchmal Unterstützung durch den
Coach. Generell kann man sagen, dass
der innere Richter einerseits an allen ver-
urteilenden Bewertungen erkennbar ist,
die sich meist auf einen selbst richten
(„inner critic“), aber auch andere verur-
teilen können („outward judge“). Ande-
rerseits ist er an fixierten Vorstellungen
erkennbar. Unser wahres Selbst hingegen
kann erkennen, ohne zu verurteilen und
muss sich an nichts festhalten.
Der Richter vergleicht uns mit ande-
ren, nutzt bestimmte Maßstäbe, um uns
daran zu messen, agiert als schlechtes
Gewissen, bezeichnet uns als „peinlich“
und sieht sich selbst als unverzichtba-
ren Berater, der uns innerlich die Hölle
heiß macht – bevor es im Außen wirk-
lich passiert. Manchmal wirkt er wie eine
Imitation früher Autoritätspersonen, aber
eigentlich übertreibt er sie – oft sogar
maßlos.
Er kann auch loben, so ist es nicht. Er
macht ein gutes Gefühl, wenn man seine
Auflagen erfüllt hat. Wer sich abends zu-
frieden im Spiegel anschaut und denkt
„Ich bin okay, weil ich alles erledigt habe,
was heute anstand“, hat die Tür auf für
die Kritik des Richters auf der gleichen
Schiene: „Wenn du nicht alles erledigst,
was heute ansteht, bist du nicht okay.“
Hier ist die erziehungsbedingte Entste-
hung des Richters besonders deutlich:
Viele Eltern geben ihren Kindern immer
nur dann das Gefühl, ein gutes Kind (und
damit liebenswert und lebenswert) zu
sein, wenn das Kind eine tolle Leistung
vollbracht hat oder ein erwünschtes Ver-
halten zeigte. Eine hilfreiche Übungsauf-
gabe für die Zeit zwischen den Coachings
ist, aufzuschreiben: a) was man am Tag
so tut, um ein Sich-selbst-schlecht-Fühlen
zu vermeiden b) was man tut, um mit
sich selbst zufrieden sein zu können und
c) was man eigentlich unabhängig von
diesen zwei Ausrichtungen tut. Und was
„hört“ man innerlich in den ersten beiden
Ausrichtungen?
Drei Konstrukte
In all den kritischen Momenten unse-
rer frühen Prägezeit hört dieser Richter
besonders gut hin und versucht, ganz
schnell zu definieren, wie das Leben
funktioniert. Dazu bildet er drei Ideen,
die Konstrukte der Realität sind und nur
in einer früheren Situation der Realität
entsprachen. Es sind kindliche Vereinfa-
chungen der viel komplexeren Realität
und dennoch Grundlage aller Aufpasser-
Aktivitäten des inneren Richters:
Christina kommt zum Coaching, stellt
Verständnisfragen und fügt sich in ihre
Rolle als Coachee, ohne die Gelegenheit
zu nutzen, den Coach kritisch zu prüfen.
Sie prüft die Coaching-Dienstleistung we-
niger als das Obst, das sie im Supermarkt
kauft. Diese Erst-Beobachtung passt zum
Anliegen von Christina: Sie möchte ihr
Selbstbewusstsein stärken und sich Kritik
nicht so zu Herzen nehmen. Christina hat
dafür innere Vorgaben, die wir im Laufe
des Coachings erkennen:
• Sei nett und freundlich!
• Enttäusche nicht die Erwartungen von
anderen!
• Vermeide Konfrontationen und Kon-
flikte!
• Stell dich und deine Bedürfnisse im
Zweifelsfall hinten an!
Diese Vorgaben gehören zum Regel-Set
des inneren Richters von Christina. Jene
innere Einheit, die auf sie „aufpasst“,
alles beobachtet und bewertet. Jeder
Mensch hat so eine innere Selbstaufpas-
ser-Instanz. Wir entwickeln sie im Alter
von etwa zwei bis drei Jahren aus Selbst-
liebe, wenn wir erkennen, dass wir nicht
„eins sind“ mit der Welt. Alle Situationen,
die in diesem Alter und den Folgejahren
bis etwa zum sechsten Lebensjahr für
uns existenziell oder emotional bedroh-
lich sind, tragen dazu bei, diese Selbst-
aufpasser-Instanz für uns zu „tunen“. Sie
ist nicht nur als innerer Richter, sondern
auch mit den Bezeichnungen Über-Ich
(englisch: Super-Ego), innerer Kritiker
oder Gremlin bekannt.
Wenn wir diese innere Stimme, diesen
Teil unseres Bewusstseins personifizie-
ren, ist es für manche eher eine männ-
Den „inneren Richter“ zum
Verbündeten machen
COACHING.
Persönlichkeitsentwicklung heißt in vielen Fällen, die Beschränkungen, die
einem der sogenannte „innere Richter“ auferlegt, zu erkennen und sich davon frei zu
machen. Cornelia Weber-Fürst, Master Certified Coach (ICF), beschreibt, wie diese Arbeit
im Coaching abläuft und wann sie erforderlich ist. Lesen Sie, wie frühe Erfahrungen
Menschen sehr lange an einer Weiterentwicklung hindern können.