Immobilienwirtschaft 10/2015 - page 37

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Mandatsträger ignorieren kann. In Deutschland ist in der Bau-
leitplanung eine zweistufige Bürgerbeteiligung rechtsverbindlich
vorgeschrieben (zu Beginn des Verfahrens als frühzeitige Öffent-
lichkeitsbeteiligung und gegen Ende als öffentliche Auslegung
vor der Abwägung und der abschließenden Beschlussfassung).
Verfahrensfehler führen schnell zur Verfahrensaufhebung.
Informelle, darüber hinausgehende Bürgerbeteiligungen sind
nicht gesetzlich vorgeschrieben, jedoch zunehmend politisch ge-
wollt. „Die Legitimität ist ‚diskursiv‘ geworden. Sie kommt häufig
nur auf dem Wege der wechselseitigen Überzeugung und des
Aushandelns zustande“ (Deutscher Städtetag).
Handbücher und Leitlinien für eine jeweils lokale Beteili-
gungs- und Planungskultur sind noch recht jung und befinden
sich in der Erprobungsphase.
So genannte Bürgerdialoge, Konsensforen und Runde Tische
involvieren Bürger- und Protestbewegungen in die Entschei-
dungsprozesse, jedoch häufig, ohne dass diese tatsächlich etwas
mitentscheiden können. Gerade diesemangelnde Verbindlichkeit
und Intransparenz sind häufig vorgetragene Kritik.
Trotzdem führt die Zusammenarbeit mit interessierten Bür-
gern zu einem Einblick in die Bedürfnisse und Meinungen un-
terschiedlicher Gruppen und das Wissen der Menschen vor Ort
in der Regel zu verbesserten Planungen. Schon der Zwang für die
Investoren und Politiker, ihre Projekte verständlich zu machen
und umUnterstützung zu werben in der öffentlichen Diskussion
mit den Gegnern des Projektes, führt in der Regel zu deutlichen
Verbesserungen.
Doch wenn sich immer mehr gesellschaftliche Gruppen he-
rausbilden und mit Selbstbewusstsein Gehör verschaffen, erhält
derWille zurMediation, zur Vermittlung und konsensualen Ent-
scheidung zwischen den Interessengruppen eine immer wich-
tigere Bedeutung.
Es ist offensichtlich, dass sich diese gesellschaftliche Dynamik
noch nicht ausreichend im politischen Systemwiederfindet. Wer
kann nicht davon berichten, dass Lagerdenken, Totaloppositi-
on, Intransparenz und Unverbindlichkeit wesentliche Entschei-
dungen verzögert oder verhindert haben? Vieles geht zum Ver-
zagen langsam. Denn wenn nicht alle an Bord sind, verlässt das
Schiff den Hafen nicht.
Auf dem Weg zurück in die Urbanität werden die Konversi-
onsräume entdeckt. Ehemals industriell oder verkehrstechnisch
genutzte Räume, frei gewordene Brachen, mitten in den Städ-
ten. Niedrigschwellige Möglichkeitsräume zur Erprobung von
gemeinsamem Handeln.
Der Park am Gleisdreieck in Berlin wurde zwischen 2009
und 2014 gebaut und verkörpert einen neuen Typus des öffentli-
chen Raumes. VonAnfang anwurden die Bürger über Umfragen,
Online-Dialoge, Veranstaltungen und eine prozessuale Bürger-
beteiligung in den Planungsprozess eingebunden und auch nach
Fertigstellung weiterhin involviert.
Heute vereint der Park multifunktionale Sport- und Spielbe-
reiche, Liegewiesen, Sonnenterrassen, Sandflächen, Gärten im
Garten, Allmendeflächen, Projekt- und Gemeinschaftsgärten,
einen Platz für Konzerte, Theater und andere künstlerische Akti-
onen, Skateanlagen, einenOutdoor-Pool, Relikte der ehemaligen
Industriekultur, den Interkulturellen Rosenduftgarten, einenNa-
turerfahrungsraum, ein Bienengärtchen mit einem Marktplatz
und einem Café.
Auf vielfältige Weise sind hier durch die Kommunikation
und den interaktiven Austausch zwischen Nachbarn, Bürgern,
Planern und PolitikernOrte entstanden, die die Kommunikation
und den interaktiven Austausch zwischen Nachbarn, Parkbesu-
chern und Kleingärtnern befördern.
Dabei gehen Argumente wie „Demokratie üben“ oder „Po-
litikverdrossenheit abbauen“ am eigentlichen Thema vorbei.
Gerade in Deutschland ist die Sorge vor unvorhersagbaren Er-
gebnissen von Bürgerbeteiligungen und Verfahrensblockaden
besonders groß. Doch nur diejenigen, die sich auf die wachsen-
de Dynamik und den deutlich erhöhten Kommunikations- und
Abstimmungsbedarf einlassen und zur Qualifizierung ihrer Vor-
haben nutzen, können in den diversifizierten Stadtgesellschaften
erfolgreich sein.
Irgendwann sicher auch im Stadtplanungsausschuss von
Friedrichshain-Kreuzberg.
Die Sorge vor unvorhersagbaren Ergebnissen von Bürgerbeteiligungen
ist groß. Doch nur wer sich auf den erhöhten Kommunikationsbedarf
einlässt, kann in diversifizierten Stadtgesellschaften erfolgreich sein.
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ZUR PERSON
Eike Becker
leitet seit Dezember 1999 mit Helge Schmidt gemeinsam das Büro Eike Becker_Architekten in Berlin.
Internationale Projekte und Preise bestätigen seitdem den Rang unter den erfolgreichen Architekturbüros in Europa. Eike Becker_Architekten arbeiten
an den Schnittstellen von Architektur und Stadtplanung mit innovativen Materialien und sozialer Verantwortung.
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