fachbeiträge
32
wirtschaft + weiterbildung
10_2011
Unternehmens mit besonderen Einfluss-
möglichkeiten und exponierter Stellung,
die in ihrer Vorbildfunktion dafür sorgen
können, dass neue Werte und geänderte
Vorgehensweisen auch gelebt werden.
Durch ihr aktives Engagement gewinnt
der Change-Prozess nicht nur an Glaub-
würdigkeit, die Mitarbeiter werden auch
aktiviert. Entscheidend ist jedoch, dass
man die richtigen Schlüsselpersonen im
Vorfeld identifiziert hat. Wie personaldia-
gnostische Verfahren – in diesem Fall ein
Interview – genutzt werden können, um
den Change-Prozess eines Unternehmens
durch die Auswahl solcher Schlüsselper-
sonen zu unterstützen, soll folgender
Fall illustrieren, der sich auf ein produ-
zierendes und forschendes Unternehmen
mit zirka 10.000 Mitarbeitern bezieht. Um
sich an verändernde Marktbedingungen
und politische Rahmenbedingungen an-
zupassen, wurde in dem Betrieb eine Re-
strukturierung beschlossen, die das Un-
ternehmen in mehrere prozessorientierte
Einheiten unterteilt. Dabei wurde ein Vor-
gehen in fünf Schritten gewählt.
1. Schritt:
Systemdiagnose.
Um die Fragen zu klären, was wann wie
verändert werden soll, bietet sich im ers-
ten Schritt eine Systemdiagnose im Unter-
nehmen an. Diese dient dazu, das Cha-
rakterbild einer Organisation mit ihren
Potenzialen und Defiziten auf manifester
und latenter Ebene zu erfassen und bietet
somit eine Basis zur Ableitung der not-
wendigen Veränderungsmaßnahmen. Im
vorliegenden Fall wurden zunächst 130
Mitarbeiter quer durch alle Bereiche und
alle Hierarchieebenen des Unternehmens
in Einzel- und Gruppeninterviews befragt.
Um neben Informationen zur Kultur des
Unternehmens auch Relevantes über Stra-
tegie und Struktur zu erfahren, wurden
diese Interviews durch eine betriebswirt-
schaftliche Analyse zu einer komplemen-
tären Systemdiagnose nach dem Muster
von Königswieser ergänzt. Die Ergebnisse
der Diagnose wurden nach der Rückspie-
gelung an die Interviewten in einen Ver-
änderungsprozess mit mehreren Teilpro-
jekten überführt.
2. Schritt:
Anforderungsanalyse.
Da die durch den Change-Prozess ange-
strebte Organisationsstruktur weitrei-
chende Veränderungen vorsah, konnten
bestehende Arbeitsplatzbeschreibungen
nur erste Hinweise auf die Anforderungen
der Zielposition liefern. Daher wurde für
die Anforderungsanalyse unter anderem
auf die Ergebnisse der Systemdiagnose
und dem daraus entwickelten Zukunfts-
bild zurückgegriffen. Neben einer Doku-
mentenanalyse sowie der Analyse des
bestehenden Kompetenzmodells wurden
weiterhin anhand eines teilstrukturierten
Leitfadens Experteninterviews eingesetzt
und ein Critical Incident Workshop durch-
geführt. Für die Definition der Anforde-
rungsdimensionen wurden die erhobenen
Informationen integriert und insgesamt
fünf Dimensionen abgeleitet, die jeweils
durch spezifischere Eigenschaften und
Verhaltensweisen illustriert wurden. Im
Sinne der oben diskutierten allgemeinen
Veränderungskompetenz fanden sich da-
runter auch Aspekte wie das Streben nach
kontinuierlicher Verbesserung, das Zeigen
von Veränderungsbereitschaft sowie Of-
fenheit gegenüber Ansätzen, Meinungen
und Theorien. Zudem wurden auch die
Aspekte Strategie und Kultur berücksich-
tigt und über diesen Weg jene Kandidaten
für die Zielposition empfohlen, die die
Werte der zukünftigen Organisation am
besten verkörpern und demzufolge als
Schlüsselpersonen, Vorbilder und Multi-
plikatoren dienen können.
3. Schritt:
Entscheidung für und
Entwicklung der diagnostischen
Instrumente.
Als Diagnoseinstrument wurde das mul-
timodale Interview (MMI) gewählt, ein
von Schuler vorgeschlagenes teilstruktu-
riertes Interviewsystem. Interviews zäh-
len zu den am weitesten verbreiteten Ins-
trumenten der internen Personalauswahl
und werden dabei sowohl von Bewerbern
als auch von Anwendern am meisten
geschätzt. Für die Entwicklung der ein-
zelnen Fragen wurde dabei unmittelbar
auf die Ergebnisse des Critical Incident
Workshops zurückgegriffen, indem die
dort generierten Situationen als Basis für
die situativen Fragen des MMI verwendet
wurden.
4. Schritt:
Auswahl der Führungskräfte
und Schlüsselpersonen.
Vor der Durchführung der Interviews wur-
den Interviewer und Beobachter im Rah-
men einer halbtägigen Schulung intensiv
geschult, um sie mit dem theoretischen
Hintergrund des Verfahrens sowie der
Handhabung des Interviewleitfadens ver-
traut zu machen. Im Mittelpunkt standen
dabei das Stellen von freien und struktu-
rierten Fragen sowie die Bewertung der
Antworten. Für die Gespräche wurden
ausschließlich interne Kandidaten nomi-
niert. Das Interview wurde dabei stets
von erfahrenen, externen Interviewern
geführt sowie zusätzlich von ein bis zwei
Mitgliedern der Steuergruppe beobachtet,
um auch hier eine Verknüpfung zum ak-
tuell laufenden Veränderungsprozess si-
cherzustellen.
5. Schritt:
Validierung der
Diagnoseinstrumente.
Die Interviews wurden sowohl von Inter-
viewern und Beobachtern als auch von
R
Adrienne Birgit
Schmidtborn
hat Psychologie
in Hamburg und
Mannheim studiert
und ist nun als Organisationsberaterin
bei Königwieser & Network tätig. Ihre
Schwerpunkte sind die Begleitung kom-
plexer Veränderungsprojekte, System-
diagnose und Teamentwicklung.
adrienne.schmidtborn@koenigswie-
ser.net
AUTOREN
Dr. Patrick Mussel
ist wissenschaft-
licher Mitarbeiter in
der Abteilung für dif-
ferentielle Psycho-
logie, Persönlichkeitspsychologie und
psychologische Diagnostik der Julius-
Maximilians-Universität Würzburg. Er
beschäftigt sich vor allem mit der Rolle
von Persönlichkeit und Entscheidungs-
verhalten im organisationalen Kontext.
patrick.mussel@uni-wuerzburg.de