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Wie in dem einführenden Artikel
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im Controller
Magazin März/April 2016 herausgearbeitet
wurde, können
Rechensysteme eine be-
stimmte Sichtbarkeit wirtschaftlicher Pro-
zesse erzeugen, indem sie einige Aspekte
der Realität hervorheben, während andere
unberücksichtigt bleiben
(vgl. Vollmer,
2014). Dabei bilden sie die Wirklichkeit nicht
objektiv ab, sondern beruhen immer auf einer
Reihe von Konventionen und Prämissen, durch
die sie die betriebliche Welt erst konstituieren
(vgl. Chiapello, 2015).
Rechensysteme können die gemeinsame
Wahrnehmungsbasis von einer Organisation
erzeugen, indem die Konzentration der Organi-
sationsmitglieder auf dieser Sichtbarkeit ruht
bzw. auf diese gelenkt wird. Blickt man nur in
diesen „Zahlenspiegel“, so bekommt man
schnell ein einseitiges Bild der Wirklichkeit.
Die
zunehmende Orientierung an Zahlen kann
dann einerseits zu einer scheinbaren Ob-
jektivität und zur „Entpolitisierung“ der be-
trieblichen Wirklichkeit führen, anderer-
seits können auch Zahlen zur Förderung
bestimmter Interessen instrumentalisiert
werden
(vgl. Vollmer, 2014).
Im Alltag kann das so dazu führen, dass wir
eine passive Haltung einnehmen und unser
Handeln unbewusst formen lassen. Wir be-
trachten den Kontext, das Zustandekommen
der Zahlen, und was dahinter steht, nicht mehr
bewusst und rechnen scheinbar kontextunge-
bunden. Doch solange der Organisationszu-
sammenhang nicht von numerisch automati-
schen Entscheidungen geprägt ist, haben wir
die Möglichkeit, unsere Entscheidungen mit-
zudenken und zu hinterfragen. Das Bewusst-
sein um den eigenen Beitrag zur Wirklichkeit
kann zu einer geistigen Haltung, zu einer inne-
ren Einstellung führen, die
durch Reflexion
ein verantwortungsvolles und ganzheitli-
ches Handeln
ermöglicht (vgl. Rehn, 2014).
Nur wer beginnt, den Einfluss von Zahlen und
Rechensystemen auf sich selbst und seine
Mitmenschen wachsam zu beobachten und
das Zustandekommen der Zahlen zu verste-
hen und zu hinterfragen, kann bewusst seine
Entscheidungen treffen.
Beitrag des Rechnungswesens zum
bewussten Umgang mit Zahlen
Welchen Einfluss die Art und Weise der Rech-
nungslegung auf die Ausrichtung einer Unter-
nehmung haben kann, wurde in dem einführen-
den Beitrag anhand Chiapellos (2009) Untersu-
chung der Geschichte der französischen Rech-
nungslegung illustriert. In Abhängigkeit von der
Ausgestaltung der Rechnungslegungsstandards
wandelt sich auch die Funktion und Zielsetzung
von Unternehmen. Wenn dem Rechnungswesen
eine so handlungsanleitende Macht zugeschrie-
ben wird, bedeutet das in der Konsequenz, dass
sich beispielsweise das Ziel von Krankenhäu-
sern, die danach beurteilt werden, wie effizient
sie arbeiten, mittelfristig von Qualitäts- hin zu
Effizienzkriterien verschieben wird.
Das Controlling
eines Unternehmens hat in
Anbetracht der zunehmenden Bedeutung von
Zahlen für die betrieblichen Handlungen einen
großen Einfluss darauf, ob und wie Mitarbeiter
eigenständige Entscheidungen im Sinne des
Unternehmens treffen können und bewusst mit
den Zahlen umgehen. Es kann
die betriebli-
chen Voraussetzungen dafür schaffen,
dass Mitarbeiter die Auswirkungen und
Einflüsse ihres Handelns erkennen
. Wie
dargestellt wurde, bilden Rechensysteme im-
mer eine bestimmte Perspektive auf die Wirk-
lichkeit ab. Aufgabe des Controllings sollte es
somit sein, zu entscheiden, wie und welche
Sicht abgebildet werden soll, und es den Mitar-
beitern zu ermöglichen, die Entstehung dieser
Sicht zu erkennen und zu hinterfragen.
So
kann ein bewusster Umgang mit Zahlen ge-
fördert werden.
Wie kann nun ein Rechensystem so gestaltet
werden, dass es die Mitarbeiter dabei fördert,
bewusst mit den Zahlen umzugehen und
gleichzeitig eigenständige Entscheidungen
im Sinne des Unternehmens zu treffen?
Eine Möglichkeit wird in den Unternehmen
Alnatura und dm – drogerie markt entwickelt
und erprobt. Führung soll in diesen Unterneh-
men nur
Rahmenbedingungen
schaffen, die
den Einzelnen bestmöglich bei der Arbeit unter-
stützen,
so dass dieser dann selbstständig
im Sinne des Ganzen handeln kann
(siehe
dazu auch Dietz & Kracht, 2007).
Das Modell
der Wertbildungsrechnung
Um es den Filialteams zu ermöglichen, ihre
Märkte so eigenverantwortlich und selbststän-
dig wie möglich zu führen, gleichzeitig das Un-
ternehmen ganzheitlich begreifen und im Sinne
des Kunden handeln zu können, führte Alnatu-
ra 2003 die
Wertbildungsrechnung (WBR)
un-
ternehmensweit ein. Das Instrument des unter-
nehmensinternen Rechnungswesens wurde zu
Beginn der 1990er Jahre unter gleichem Anlie-
gen vom Handelspartner
dm – drogerie markt
entwickelt und 1993 eingeführt.
Mit der WBR hat dm – drogerie markt ein Ins-
trument des internen Berichtswesens entwi-
Erkenntnis fördern, Haltung gewinnen
Die Wertbildungsrechnung bei Alnatura und dm – drogerie markt
von Philipp Hummel
CM September / Oktober 2016