Wirtschaft und Weiterbildung 10/2016 - page 64

grundls grundgesetz
Boris Grundl
64
wirtschaft + weiterbildung
10_2016
Die Botschaft vieler Motivationstrainer lautete
früher: Du kannst alles erreichen, wenn du dich
traust. Wo ein Wille ist, wartet ein Weg. Ist dem so?
Welch schöner Gedanke für angstgetriebene Kon-
trollfreaks, die Welt durch Willenskraft formen zu
können. Das so entstandene Allmachtsideal prägt
heute noch manchen Anspruch an Führungskraft
und Mitarbeiter. Etwas klappt nicht? Dann wolltest
du es zu wenig. Streng dich mehr an! Doch zu jeder
Bewegung existiert eine Gegenbewegung, ein Aus-
gleich und Gegengewicht. Das dritte Newtonsche
Gesetz: Actio und Reactio. Das Ergebnis? „Ich habe
es nicht geschafft. Die Umstände waren gegen
mich. Die anderen oder das System lassen mich
nicht. Ich würde ja gerne.“ Kennen Sie das? Vermut-
lich. Interessant! Wer hat da recht? Personenkult
oder Systemgläubigkeit?
Stellen wir bewusst die extremen Pole gegenüber
und spielen damit. Den Satz „Alles ist möglich“
packen wir nach Amerika. Der personenzentrierte
Glaube, alles erreichen zu können. Der amerika-
nische Traum „Vom Tellerwäscher zum Millionär“
gründet darauf. In seiner harten Form nährt er den
Schöpferwahn: Aktionismus, Dominanzstreben und
Narzissmus. Auch unter den aktuellen Präsident-
schaftskandidaten soll er vertreten sein. Den Satz
„Ich würde gern, aber man lässt mich nicht“ packen
wir nach Deutschland. Der deutsche Traum „Ein
System richtet es und sorgt für mich“ ist das Mantra
der Systemjünger. Zu viel Systemhörigkeit führt in
die Opferhaltung – zu Fatalismus, Gleichgültigkeit
und Selbstverleugnung.
Doch welche Wirkung haben die beiden Pole real?
Ein Praxischeck: Können die Syrer in Aleppo wirklich
alles werden, was sie wollen, wenn links und rechts
die Granaten einschlagen? Jetzt wird klar: Fehlende
Voraussetzungen, kein funktionierendes System
sorgen für Zwang, Chaos und Zerstörung. Von
freiem Willen keine Spur. Wie in Deutschland nach
1945. Doch mit dem Wirtschaftswunder kamen
funktionierende politische und wirtschaftliche Sys-
teme und mit ihnen Freiheit und Selbstbe-
stimmtheit. Die Chance, sein Leben sinn-
voll zu gestalten. Schufen damals wenige
Macher sehr hierarchische Strukturen,
tragen heute wandlungsfähige Systeme
den Menschen und umgekehrt. Oder kurz:
Funktionierende Systeme sind die Voraussetzung
für Machbarkeit.
Heute ist die Zeit der Macher vorbei. Die Verantwor-
tung liegt immer mehr beim Einzelnen. Jeder muss
entscheiden, was er zum Gemeinwohl beitragen
und zum eigenen Gelingen denken und tun will. Die
Qual der Wahl. Für manche ein Horror. Für andere
ein Traum. Aus meiner Sicht war noch nie die Mög-
lichkeit, sein Ding zu machen, so groß wie heute.
Zugegeben: Meine Meinung ist sicher etwas extrem
und basiert auf meinem Lebenslauf als zu 90 Pro-
zent gelähmter Schwerstbehinderter. Und dennoch
treffe ich immer wieder Menschen, die ihr Versagen
stets auf andere schieben, statt sinnvoll zu differen-
zieren. Auch das ist Freiheit.
Lassen Sie uns zusammenfassen: Systeme sind
Voraussetzung für Anfang und Ende der Mach-
barkeit. Egal, ob Politik, Wirtschaft, Ressourcen
(physisch und psychisch!), Kulturen oder Gene. Es
gibt klare Grenzen der Einflussmöglichkeit eines
Einzelnen. Dazwischen liegt ein riesiges Feld voll
Machbarkeit und Einfluss. Erkennen Sie exakt die-
sen Korridor. Jeden Tag aufs Neue.
Paragraf 49
Nutze Deine Möglich-
keiten und erkenne
Deine Grenzen
Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden.
Grundl gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein neues Buch heißt: „Mach mich glücklich. Wie Sie das bekommen,
was jeder haben will“ (Econ Verlag 2014, 246 Seiten, 18 Euro). Boris Grundl beweist, wie leicht und schnell das Verschieben von Verantwortung in eine
zerstörerische Sackgasse führt und die persönliche Weiterentwicklung und damit Glück verhindert.
Können Syrer in Aleppo wirklich alles
werden, was sie wollen, wenn links
und rechts die Granaten einschlagen?
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