Wirtschaft und Weiterbildung 10/2016 - page 24

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wirtschaft + weiterbildung
10_2016
titelthema
zialwissenschaft“ ausleuchten. Der So-
zialwissenschaft gelinge es mit ihren
Theorien nicht, den „inneren Ort“, den
„Ursprungsort“, von dem „unsere Auf-
merksamkeit und Intention entsprin-
gen“, ins Blickfeld zu bekommen. Die
„Quell- oder Tiefendimension unserer
sozialen Wirklichkeitserfahrung“ sei den
Sozialwissenschaften verborgen, „weil sie
nicht bereit sind, den Strahl unserer Be-
obachtung zu beugen, umzulenken und
schließlich auf seinen Quellort zurückzu-
lenken“.
In diesem Artikel geht es darum, mithilfe
der Soziologie eine abstrakte Beobach-
tungsebene einzunehmen und so – um
die Aussage von Scharmer zu paraphra-
sieren – die „unsichtbare Dimension des
sozialen Prozesses zu erhellen“, die ent-
steht, wenn sich Berater, Manager oder
Politiker auf einen Prozess im Sinne der
Theorie U einlassen. Es geht in diesem
Artikel also – ganz im Sinne des Soziolo-
gen Niklas Luhmann – um eine Aufklä-
rung durch Abklärung.
1. blinder Fleck:
die gleichzeitige Veränderung von
allem und allen
Für eine Managementmode braucht es
als Ausgangspunkt die Diagnose einer
dramatischen Krise – so ist es auch bei
der Theorie U. Die aktuelle Krise, so der
Tenor bei Scharmer, sei nicht einfach die
Krise einer einzelnen Führungskraft oder
einer einzelnen Organisation oder eines
bestimmten Landes, es sei die Krise der
Gesellschaft als Ganzes. „Während der
Druck um uns herum zu- und die Frei-
heitsgrade abnehmen“, multiplizierten
sich die unbeabsichtigten Nebenwirkun-
gen und Konsequenzen unseres Han-
delns. Trotz einer „florierenden globalen
Wirtschaft“ würden „drei Milliarden
Menschen in Armut leben“. Wir gäben
„Unsummen Geld für Gesundheitssys-
teme“ aus, die auf der „Symptomebene
herumstochern und nicht in der Lage
sind, die ursächlichen Gründe für Ge-
sundheit und Krankheit in unserer Ge-
sellschaft anzugehen“. Wir „kippen große
Mengen Geld in unsere Bildungssysteme,
waren aber bislang nicht in der Lage, In-
stitutionen für Höhere Bildung zu schaf-
fen, die die tief im Menschen veranlagte
Fähigkeit zu lernen mobilisieren.“ Wir
lebten, so die dramatische Zuspitzung,
auf „einer dünnen Kruste aus Ordnung
und Stabilität, die jederzeit auseinander-
brechen kann“.
Als Reaktion auf diese Krise wird die Not-
wendigkeit „großer Transformationen“
verkündet. Es komme, so Scharmer, da-
rauf an, im Rahmen eines „Re-Actings“,
„Re-Structurings“, „Re-Designings“, „Re-
Framings“ und „Re-Generatings“ völlig
„neue Aktionen“ durchzuführen, „neue
Strukturen“ zu schaffen, „neue Pro-
zesse aufzulegen“, ein „neues Denken“
zu etablieren und ein „neues Selbst“ zu
kreieren. Es reicht nicht aus, nur Organi-
sationen oder einzelne Aspekte der Or-
ganisation zu verändern. Es geht gleich
um den Anspruch, „das Selbst“ der Men-
schen zu verändern und dadurch auch
gleich die „Gesellschaft“ als Ganzes auf
ein neues Entwicklungsniveau zu heben.
Hier findet sich ein Argumentationsweg,
der typisch für Managementmoden ist.
Ausgangspunkt sind zunächst einmal
Die Theorie U hat aus der Perspektive der
Soziologie die typische Bauform einer
Management-Mode. So eine Mode gibt
sich nie damit zufrieden, nur Organisa-
tionen optimieren zu wollen, sondern es
wird immer gleich auch die Veränderung
sowohl des Einzelnen als auch der Ge-
sellschaft versprochen (bei Dr. Carl Otto
Scharmer gleich in Kapitel 1 seines Buchs
„Theorie U - Von der Zukunft her füh-
ren“, Carl Auer Verlag, Heidelberg).
Typisch für Managementmoden ist auch,
dass die eigenen Konzepte mit wissen-
schaftlichen Kompetenzsignalen ausge-
stattet werden. Was wissenschaftlich be-
wiesen ist, ist (so die Suggestion) auch
für die Praxis in Organisationen hilfreich
(Kapitel 2). Die Ausblendung von Inter-
essenkonflikten ist ebenfalls charakte-
ristisch für Managementmoden. Bei der
Theorie U wird der Gemeinschaftsaspekt
besonders stark betont (Kapitel 3). Einer
Managementmode ähnelt die Theorie U
auch deshalb, weil sie verspricht, dass
die Organisation – oder gleich die ganze
Gesellschaft oder auch nur das einzelne
Individuum – nach Durchlaufen der ver-
schiedenen Phasen des Veränderungspro-
zesses in einem besseren Zustand sein
soll. Dabei dominiert eine zweckrationale
Vorstellung, die davon ausgeht, dass Ver-
änderungsprozesse durch einen vorher
definierten Zielzustand getrieben werden
sollen (Kapitel 4).
Scharmer hat mit seiner Theorie U den
Anspruch, die „unsichtbare Dimension
des sozialen Prozesses zu erhellen, mit
der es jeder von uns im täglichen Leben,
ob bewusst oder nicht, zu tun hat“. Dabei
will er auch den „blinden Fleck der So-
Die vier blinden Flecken
der „Theorie U“
ANALYSE.
„Es ist nicht leicht, die populäre Theorie U als Modewelle zu kritisieren“, sagt
der Soziologie-Professor Stefan Kühl. Nicht, weil die Theorie keine Schwächen hat,
sondern weil sie genial gegen Kritik immunisiert wird. Ihr Erfinder unterstellt Kritikern, sie
würden den „Resonanzkörper“, der durch ihn ins „Schwingen“ gebracht wurde, behindern.
Kühl riskiert es, zur „Bewegung der ewig Gestrigen“ gezählt zu werden und wagt Kritik.
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