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10_2014
wirtschaft + weiterbildung
35
5.
Die sozialen Einheiten in unserer
Gesellschaft werden immer kleiner
und brüchiger.
Vor 30, 40 Jahren dominierten in unse-
rer Gesellschaft noch die Familien mit
zwei, drei oder mehr Kindern. Und grün-
dete der Nachwuchs eine eigene Fami-
lie? Dann geschah dies meist in relativer
Nähe zum Elternhaus. Heute hingegen
dominieren zumindest in den städtischen
Ballungsräumen die Single-Haushalte
und kinderlosen Paare (mit Hund). Und
die verbliebenen Familien? Sie sind häu-
fig Patchwork-Familien mit einem oder
zwei Kindern. Und die Großeltern, auf die
man früher im Bedarfsfall zurückgreifen
konnte? Sei es, wenn ein Handwerker
kam? Oder der Lebenspartner oder ein
Kind krank wurde? Sie wohnen oft Hun-
derte von Kilometern entfernt. Das heißt:
Vielen Arbeitnehmern fehlen heute ge-
wachsene, soziale Stützsysteme, die sie
im Bedarfsfall entlasten und (emotional)
tragen. Entsprechend „verletzlich“ sind
sie oder entsprechend schnell stoßen sie
an Belastungsgrenzen. Daraus resultiert
die Herausforderung für Unternehmen:
Sie müssen mit ihrer Personalpolitik auf
die veränderte Lebensrealität ihrer Mit-
arbeiter reagieren, zum Beispiel, indem
sie ihnen ein noch flexibleres Arbeiten
ermöglichen und Auszeiten, wenn sie pri-
vat gefordert sind.
Neben diesen gesellschaftlichen Verän-
derungen gibt es zusätzliche mikro- und
makroökonomische Trends, die die Perso-
nalstrategien vieler Betriebe infrage stel-
len. Die wichtigsten sind:
A)
Die Unternehmen sind heute sehr
viel mehr in Netzwerken strukturiert
als früher.
In den tayloristisch organisierten Betrie-
ben der Vergangenheit hatte jeder Mitar-
beiter seine klar definierten Aufgaben, die
häufig in einer Stellenbeschreibung fixiert
waren. Heute hingegen sollen (zumindest
in den Kernbereichen der Unternehmen)
die Mitarbeiter meist in bereichs-, hierar-
chie- und zuweilen sogar unternehmens-
übergreifenden Teams die ihnen über-
tragenen Aufgaben lösen – weitgehend
eigenständig. Deshalb fordern sie von
ihren Führungskräften zu Recht mehr In-
formation und Partizipation. Daraus folgt:
Die Unternehmen müssen ihre tradierten
Führungsmodelle überdenken, weil sie
häufig mit dem Arbeitsalltag ihrer Mitar-
beiter kollidieren.
B)
Die Beziehung Arbeitgeber-Arbeit-
nehmer ist häufiger eine Koopera-
tion auf Zeit.
Die Unternehmen müssen heute ihre Stra-
tegien in immer kürzeren Zeitabständen
überdenken, da sich ihre Märkte rasch
wandeln. Deshalb können sie ihren Mit-
arbeitern keine lebenslangen Beschäfti-
gungsgarantien mehr geben, wie sie dies
in der Vergangenheit oft unausgespro-
chen taten. Die Zusammenarbeit wird zu-
nehmend zur Zusammenarbeit auf Zeit.
Das wissen auch die Mitarbeiter. Deshalb
binden sie sich emotional nicht mehr so
stark wie früher an ihre Arbeitgeber. Also
müssen sich die Unternehmen fragen:
Wie stellen wir eine Identifikation mit
dem Unternehmen sicher, selbst wenn die
Zusammenarbeit mit hoher Wahrschein-
lichkeit eine Zusammenarbeit auf Zeit ist?
C)
Die Arbeits- und Qualifikationsan-
forderungen wandeln sich immer
schneller.
Aufgrund des sich rasch wandelnden Un-
ternehmensumfelds wandeln sich auch
die Anforderungen an die Mitarbeiter
schneller.
Deshalb erwarten sie von ihren Arbeit-
gebern eine aktivere Unterstützung beim
Weiterentwickeln ihrer Kompetenz, damit
sie auch morgen noch begehrte Arbeit-
nehmer sind, weil sie über die geforderte
Qualifikation verfügen. Daraus erwächst
die Herausforderung für Unternehmen:
Sie müssen ihre Personalentwicklungs-
und Führungskonzepte so umgestalten,
dass jeder Mitarbeiter auch tatsächlich
die Unterstützung erfährt, die er – als
Individuum – zum Erhalt oder Ausbau
seiner beruflichen Kompetenz und zum
Wahrnehmen seiner (künftigen) Aufga-
ben braucht.
D)
Die „Siemens-“, „Deutsche Bank-“
oder „Opel-“Familie gibt es längst
nicht mehr.
In den zurückliegenden Jahrzehnten wur-
den die meisten Großunternehmen aus
betriebswirtschaftlichen Gründen in Hol-
dings umgewandelt. Das heißt, die Un-
ternehmensspitze sourcte die Bereiche,
die aus ihrer Warte nicht zu den Kernbe-
reichen zählten, entweder aus oder wan-
delte sie in Tochtergesellschaften um, in
denen meist auch andere Tarifverträge als
bei der „Mutter“ (oder gar keine mehr)
gelten.
Sie ersetzte zudem (speziell auf der ope-
rativen Ebene) oft Teile der Stammbeleg-
schaft durch Leiharbeiter. Das registrier-
ten (und spürten) selbstverständlich auch
die Mitarbeiter, weshalb sie emotional auf
Distanz zu ihrem Arbeitgeber gingen und
das tradierte Gefühl „Wir sind eine Fami-
lie“ zerbrach. Also müssen sich die Un-
ternehmen fragen: Wie können wir das
Gemeinschaftsgefühl in unserer Organisa-
tion bewahren, obwohl unsere Mitarbei-
ter faktisch für verschiedene Unterneh-
men arbeiten, die häufig unterschiedliche
Personalstrategien haben?
Sich mit den oben skizzierten Verände-
rungen und Herausforderungen zu befas-
sen, ist für die Personalverantwortlichen
in den mittleren und großen Unterneh-
men zielführender als sich mit der Gene-
ration Y zu beschäftigen, denn sie ist nur
eine Schimäre am Medienhorizont.
Georg Kraus
Dr. Georg Kraus
ist geschäftsfüh-
render Gesell-
schafter der inter-
national agieren-
den Unternehmensberatung Dr. Kraus
& Partner, Bruchsal, für die über 100
Berater, Trainer und Projektmanager
arbeiten. Der diplomierte Wirtschafts-
ingenieur ist unter anderem Autor des
„Change Management Handbuch“
und zahlreicher Projektmanagement-
Bücher. Seit 1994 ist er Lehrbeauf-
tragter an der Universität Karlsruhe,
der IAE in Aix-en-Provence und der
Technischen Universität Clausthal.
Dr. Kraus & Partner
Werner-von-Siemens-Str. 2-6
76646 Bruchsal
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