10_2014
            
            
              wirtschaft + weiterbildung
            
            
              17
            
            
              ist an ihm vorbei befördert worden. Das sind immer bloß An-
            
            
              lässe. Aber gerade in der Arbeitswelt muss man diese heim-
            
            
              lichen, schleichenden Prozesse ebenfalls mitbetrachten. Doch
            
            
              das geschieht nur selten.
            
            
              Warum halten Sie das gerade in der Arbeitswelt für wichtig?
            
            
              Willemsen:
            
            
              Wo Unternehmen allein das Leistungsprinzip ver-
            
            
              fechten, bringen sie ihre Mitarbeiter an die Grenzen der Be-
            
            
              lastbarkeit. Deshalb sind Phänomene wie Burn-out, Leistungs-
            
            
              Roger Willemsen.
            
            
              1955 in Bonn geboren, war Autor,
            
            
              Universitätsdozent, Übersetzer, Herausgeber und Korres
            
            
              pondent, ehe er 1991 zum Fernsehen kam, wo er in den
            
            
              folgenden 15 Jahren gut zweitausend Interviews führte,
            
            
              Kultursendungen produzierte, Filme drehte. Er interviewte
            
            
              unter anderem Audrey Hepburn, Yassir Arafat, Michail Gor-
            
            
              batschow, Madonna, Yehudi Menuhin, Pierre Boulez, Mar-
            
            
              garet Thatcher und den Dalai Lama.
            
            
              Willemsen wurde mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel
            
            
              mit dem Grimme-Preis in Gold. Inzwischen steht er mit
            
            
              Stand-up-Programmen auf deutschen Bühnen. Seine
            
            
              Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt erschie-
            
            
              nen „Afghanische Reise“, „Hier spricht Guantánamo“, das
            
            
              mit dem Rinke-Preis ausgezeichnete Buch „Der Knacks“
            
            
              sowie „Bangkok Noir“ und das in diesem Jahr (2014) ver-
            
            
              öffentlichte Buch „Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament“,
            
            
              das die Bestsellerlisten anführt.
            
            
              Keynote-Vortrag von Roger Willemsen:
            
            
              „Lebensbrüche. Vom Wert des Scheiterns“
            
            
              Messe „Zukunft Personal 2014“
            
            
              Donnerstag, 16. Oktober 2014, 12 bis 13 Uhr,
            
            
              anschließend Public Interview
            
            
              Koelnmesse, Halle 2.1, Forum 1
            
            
              Interviewpartner
            
            
              funktionsstörungen, Depressionen, Erschöpfungssyndrome die
            
            
              Krankheiten der Zeit. Das hat nicht nur mit der reinen Ar-
            
            
              beitsüberforderung zu tun, sondern auch mit der Entfremdung.
            
            
              Dass Menschen ihre Arbeitsabläufe gar nicht mehr überbli-
            
            
              cken, sich nur noch wie eine riesige funktionierende Einheit
            
            
              in einem großen Komplex erleben. Sie sehen weder, wo sie
            
            
              herkommen noch wo sie hingehen. Wo der Mensch selbst ma-
            
            
              schinenförmig wird und die Effizienz einer Maschine haben
            
            
              soll, jederzeit leistungsfähig, ohne Reibung, ohne Störung, da
            
            
              kommt er an seine Grenzen. Deshalb bleibt den Unternehmen
            
            
              nichts anderes übrig, als eine so irrationale Seite wie das Schei-
            
            
              tern einzubeziehen. Und auch so etwas wie Motivation, Be-
            
            
              geisterung, Identifikation – alle diese Dinge, die letztlich im im-
            
            
              materiellen Bereich der Kultur liegen. Lange hat man gedacht,
            
            
              man könne das alles materiell lösen. Aber das geht nicht mehr
            
            
              mit Bonusregelungen oder mit Entschädigungszahlungen für
            
            
              ausfallende Wochenenden.
            
            
              Was müsste sich in den Unternehmen ändern?
            
            
              Willemsen:
            
            
              Mitarbeiter sollten eine ganzheitliche Sicht auf das
            
            
              bekommen, was ein Unternehmen macht. Sie brauchen eine
            
            
              gewisse Durchsichtigkeit der Abhängigkeiten und des Inein-
            
            
              andergreifens von Arbeitsprozessen. Ich habe selber einmal
            
            
              eine Fernsehproduktionsfirma gehabt und als wir noch rich-
            
            
              tige Fernsehshows machten, da durften die Redakteure immer
            
            
              alles machen. Wenn wir einen Gast hatten, dann kümmerte
            
            
              sich eine Person um die Akquise, die Vorbereitung, die Abho-
            
            
              lung vom Flughafen und die Betreuung auf dem Set. Und das
            
            
              hat bei den Redakteuren immer dazu geführt, dass sie sich
            
            
              mit großem Enthusiasmus auf die Arbeit gestürzt haben, weil
            
            
              sie wussten, ich bin für alles verantwortlich. Diese Ganzheit-
            
            
              lichkeit verhindert, dass jemand nur stur seine Arbeit tut und
            
            
              keine Beziehung mehr zum Rest hat.
            
            
              Wenn man insgesamt auf das Berufsleben schaut: Die
            
            
              Lebenserwartung der Menschen steigt. Zukünftig werden wir
            
            
              wohl bis zum 70. Lebensjahr und darüber hinaus arbeiten
            
            
              müssen. Wie schaffen wir es angesichts von Lebensbrüchen
            
            
              und Knacksen, dass wir so lange durchhalten?
            
            
              Willemsen:
            
            
              Wir brauchen ein klares Gegengewicht zur reinen
            
            
              Arbeit. Da komme ich wieder auf das Prinzip des qualifizierten
            
            
              Lebens zurück. Es braucht immer wieder Erlebnisse, die Erfah-
            
            
              rungen verdichten – mithilfe von Kultur, Literatur, Musik oder
            
            
              dem Film. Man braucht die Fähigkeit, sich zu transzendieren,
            
            
              also in irgendeiner Weise sich zu überschreiten und sich von
            
            
              oben anzuschauen, was man ist und was man tut, statt es
            
            
              ausschließlich zu absolvieren. Wenn wir schon so viel Zeit mit
            
            
              der Arbeit verbringen, ist es wichtig, ihr auch Sinn zu geben.
            
            
              Interview: Stefanie Hornung
            
            
              Abendprogramm.
            
            
              Sein aktu-
            
            
              elles Buch hat Willemsen
            
            
              zu einer szenischen Lesung
            
            
              verarbeitet. Diese „parlamen-
            
            
              tarischen Exkursionen“ prä-
            
            
              sentiert er gemeinsam mit der
            
            
              Schauspielerin Annette Schie-
            
            
              deck und dem Hörfunk-Modera-
            
            
              tor Jens-Uwe Krause – zum Bei-
            
            
              spiel in Hamburg (3.11.), Berlin
            
            
              (18.11.), Düsseldorf (9.12.)
            
            
              oder Bremen (11.12.).
            
            
              „Von meinen allerbesten Studenten hat
            
            
              im Moment keiner eine Stelle auf der
            
            
              Höhe seiner Begabung.“