menschen
            
            
              16
            
            
              wirtschaft + weiterbildung
            
            
              10_2014
            
            
              lerbesten Witze, indem man sich über sich selber lustig macht
            
            
              und Selbstironie demonstriert, wenn man erzählt, was alles
            
            
              schiefgelaufen ist. Es gibt kaum ein Gebiet im Leben, in dem
            
            
              man aus dem Misslingen nicht eine Pointe gewinnen kann.
            
            
              Oft vergessen wir darüber die Bedingungen und Gründe die-
            
            
              ses Scheiterns und fragen uns nicht, worin wir unser eigenes
            
            
              Scheitern verschulden oder verursachen. Diese Analyse ist
            
            
              wichtig.
            
            
              Daniel Goeudevert, ehemals VW- und Ford-Manager, wollte
            
            
              nach seinem Ausscheiden aus der Wirtschaft einen Lehrstuhl
            
            
              aufmachen, der Managern erklärt, auf welche Weise das Schei-
            
            
              tern in ihr Leben kommt und was passiert, wenn man geschei-
            
            
              tert ist. Wie ändert sich die Tonlage der Kollegen, wie viel Kom-
            
            
              petenz habe ich noch, wenn man mir alles das wegnimmt,
            
            
              was mit meinem Status zusammenhängt? Er sagte damals, ich
            
            
              wusste nicht mal, wie viel Porto man auf einen Brief drauf-
            
            
              kleben muss. Diese Lebensuntauglichkeit, die der Misserfolg
            
            
              einem klarmacht, kann man frühzeitig verhindern. Goeudevert
            
            
              hat das so gelöst, dass er immer einen Tag im Monat am Fließ-
            
            
              band stand und sich in die normalen Arbeitsabläufe begeben
            
            
              hat.
            
            
              Wann sind Sie denn einmal gescheitert?
            
            
              Willemsen:
            
            
              Ich bin vielfach gescheitert, und zwar früh. Auf
            
            
              der einen Seite nehme ich den Tod meines Vaters als Scheitern
            
            
              wahr. Das ist zwar irrational, aber es ist so. Auch deshalb, weil
            
            
              ich ein sehr schlechter Schüler war, als mein Vater starb und
            
            
              mir das nie verziehen habe, dass mein Vater in einer Situation
            
            
              gestorben ist, in der ich sitzen geblieben bin und wirkte wie
            
            
              ein wirklicher Fehlgriff. Er war überzeugt, ich lande an der
            
            
              Tankstelle – und ich war es auch. Die zweijährige Sterbenszeit
            
            
              und die ganzen Umstände, das waren äußere Faktoren, die
            
            
              dazu führten, dass vieles, woran ich reifte, zu der Zeit nicht
            
            
              gerade in der Schule stattfand.
            
            
              Für eine Analyse des Scheiterns sind also zunächst die
            
            
              Umstände von außen wichtig. Aber Scheitern kann ja auch von
            
            
              innen kommen.
            
            
              Willemsen:
            
            
              Ja, das ist völlig richtig. Ich habe das Sitzenbleiben
            
            
              in der Schule immer zu einem großen Teil auf mich selber
            
            
              bezogen. Ich bin zweimal hängen geblieben in der Schule. In
            
            
              dem Jahr, als mein Vater starb, blieben auch meine beiden
            
            
              Geschwister sitzen – das kann man dann auch mit den Um-
            
            
              ständen erklären. Beim ersten Mal war es aber einfach Faul-
            
            
              heit, Dummheit, Enthusiasmus für alles andere außer für den
            
            
              Schulunterricht. Und insofern muss man sich das schon selber
            
            
              anrechnen. Als ich dann als groß gewachsener Konfirmand
            
            
              zwischen lauter jüngeren Mädchen saß, fühlte sich das regel-
            
            
              recht wie ein Versagen an – das war nicht besonders sexy.
            
            
              In Ihrem Buch „Der Knacks“ unterscheiden Sie verschiedene
            
            
              Formen des Scheiterns – zum einen die Lebensbrüche und
            
            
              zum anderen den Knacks. Was macht diesen Unterschied aus?
            
            
              Willemsen:
            
            
              Ich kann es an zwei Symbolen klarmachen. Das
            
            
              eine wäre die Narbe: ein Scheitern, bei dem ich mich immer
            
            
              an den Tag erinnere – zum Beispiel an den Tag, an dem ich
            
            
              das Zeugnis bekam mit dem Hinweis, Roger Willemsen wird
            
            
              nicht versetzt. Zu diesem Zeitpunkt erfahre ich von meinem
            
            
              Scheitern oder ich kriege das Dokument dafür. Das wird mir
            
            
              wehtun und das ist über diese Narbe immer erinnerbar. Das
            
            
              andere wäre die Falte, die sich irgendwann in die Haut ein-
            
            
              prägt, die irgendetwas verrät, die eine Form von Ermüdung,
            
            
              Bitterkeit oder Enttäuschung haben kann. Sie vertieft sich ganz
            
            
              leise, sie ist an einem Tag nicht da gewesen, aber sie wird
            
            
              immer markanter und prägender und zeichnet irgendwann das
            
            
              Gesicht. Sie hat eine Geschichte. Sie ist wie eine Krakelee, wie
            
            
              die Rissglasur, die manche alten Vasen haben, die sie eigentlich
            
            
              erst ausmachen. Es ist etwas, was in schleichenden Prozessen
            
            
              kommt. Und viele der Prozesse, die durch dieses „irgendwann
            
            
              irgendwo irgendwas“ bestimmt sind, werden von uns nicht
            
            
              identifiziert. Wir denken eher bürokratisch. Wann bin ich ein-
            
            
              geschult worden, wann bin ich hängen geblieben, wann habe
            
            
              ich geheiratet, wann habe ich die ärztliche Diagnose bekom-
            
            
              men? Wir orientieren uns an diesen Einzeldaten, doch wenn
            
            
              wir uns erinnern, besteht unser Leben immer aus namenlosen
            
            
              Prozessen, von denen wir häufig gar nicht wissen, wann haben
            
            
              sie angefangen und seit wann sind sie abgeschlossen. Das
            
            
              Essen schmeckt nicht mehr, Küsse sind nicht mehr, wie sie
            
            
              einmal waren, der Wald wirkt nicht mehr so, wie er früher auf
            
            
              mich wirkte. Die Vergnügungen sind ausgeschöpft. Wann hat
            
            
              das eigentlich begonnen? Wenn man sich mit dem Scheitern
            
            
              beschäftigt, muss man eigentlich immer beide Prozesse beach-
            
            
              ten: Wie ein Mensch zusammengesetzt wird aus den Einzelsi-
            
            
              tuationen der Niederlage und aus den großen Prozessen.
            
            
              Ein typischer Knacks wäre dann sozusagen, wenn Menschen
            
            
              am Arbeitsplatz ausgebrannt sind und die Freude an der
            
            
              Arbeit verloren haben.
            
            
              Willemsen:
            
            
              Ja, ganz recht. Dann reicht es eben nicht aus zu
            
            
              sagen, der hat den Zuschlag nicht bekommen, dessen Kollege
            
            
              „Ich nehme den Tod meines Vaters als
            
            
              Scheitern wahr. Das ist zwar irrational,
            
            
              aber es ist so.“
            
            
              R