Seite 15 - wirtschaft_und_weiterbildung_2014_10

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10_2014
wirtschaft + weiterbildung
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gekommen, in denen wir festgestellt haben, dass das Erfah-
ren und Überwinden einer Niederlage zum Bauprinzip einer
geglückten Arbeitsbiografie gehören kann. Das gilt auch für
das Privatleben. Wer beruflich oder privat Scheitern kennen-
lernt, wird plötzlich ein Mensch mit anderer Grundierung. Das
stattet uns mit einer anderen Form von Empathie aus für die,
die unter Umständen an ihre Leistungsgrenzen kommen. Das
Scheitern schärft auch den Blick für Talente und Begabungen.
Scheitern beginnt oft schon am Anfang des Berufswegs.
Die Zahl der Studienabbrecher wird jährlich auf 100.000
geschätzt. Und viele junge Leute werfen ihre Ausbildung hin.
Was sehen Sie da für Gründe?
Willemsen:
Bei meinen Studenten beobachte ich mit Schrecken
eine Reihe psychosomatischer Erkrankungen, Depressionen
und Panikzustände, die sich in einer geringen Konzentrations-
spanne und einer frühzeitigen Antriebslosigkeit niederschla-
gen. Da ist ein starkes Phlegma – nicht unbedingt dem Ge-
genstand gegenüber, sondern dem gesamten Leben gegenüber.
Zum Teil ist das sicher darin begründet, dass ein berufliches
Motivationsloch besteht. Von meinen allerbesten Studenten
und Studentinnen hat im Moment keiner eine Stelle auf Höhe
der eigenen Begabung.
Was empfehlen Sie jemandem in so einer Sinn- oder
Motivationskrise: eher durchbeißen oder hinwerfen?
Willemsen:
Das muss man von Fall zu Fall entscheiden. Man-
chen Studenten fällt es schwer herauszufinden, was ihre reale
Leidenschaft ist und worüber sie ihre Abschlussarbeit schrei-
ben sollen. Dann versuche ich das durch Ausschlussfragen
zu isolieren. Sie wissen nicht, welche Epoche. Dann sage ich,
schließen wir mal Epochen aus. Dann kommt man meistens
beim Genre an. Sie wollen aber nicht über Lyrik schreiben?
Nein. Auch nicht über Dramatik? Nein. Dann wollen Sie über
den Roman schreiben? Ja, über den Roman. Und dann geht das
so weiter nach einem K.-o.-System. Der andere Aspekt ist, dass
man auch mal fragt: „Seid ihr sicher, dass das die richtige Ar-
beit für euch ist? Wie seid ihr gerade auf das Fach gekommen?
Wisst ihr was hier auf euch zukommt?“ Es passiert aber sehr
häufig, dass die Leute fehlende Begabung lieber nicht ehrlich
ansprechen.
Eine fehlende Begabung oder die falsche Berufswahl – wir
tun uns ja auch oft schwer damit, uns unsere Niederlagen
einzugestehen.
Willemsen:
Ja, das sehen Sie zum Beispiel daran, dass Nieder-
lagen eine ewige Quelle des Humors sind. Man macht die al-
Essay.
„Der Knacks“ (2008) ist
ein tiefschürfender Essay über
die Momente, in denen das
Leben die Richtung wechselt.
Willemsen analysiert Enttäu-
schung, Verlust, Niederlage
und das grandiose Scheitern.
Bestseller.
Derzeit steht Willem-
sens Buch „Das Hohe Haus“
(S. Fischer, 2014) in den
Bestsellerlisten ganz oben.
Willemsen beobachtete ein Sit-
zungsjahr lang die Debatten im
Deutschen Bundestag.
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