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wirtschaft + weiterbildung
02_2013
Reich-Ranicki hielt
„Rede des Jahres
2012“
Würdigung.
Der 92-jährige Literaturkritiker Marcel Reich-
Ranicki hat für seine Rede, die er am 27. Januar 2012
im Bundestag zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des
Nationalsozialismus“ hielt, die Auszeichnung „Rede des
Jahres 2012“ erhalten. Zugesprochen wurde ihm diese
Ehre vom Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität
Tübingen, das seinen präzisen Berichtsstil lobte.
Reich-Ranicki erinnerte in seiner Rede als Überlebender des
Warschauer Gettos an die Verbrechen der Nazis in Polen. Er
erzählte von den Ereignissen kurz vor und nach dem 22. Juli
1942. Damals startete die Deportation der Juden aus Warschau
in das Vernichtungslager Treblinka. „Die detailgetreue und von
atmosphärischen Eindrücken durchzogene Erinnerung führt
die Grausamkeit der Judenvernichtung direkt vor Augen“, ur-
teilte die Jury.
Reich-Ranickis Rede sei durch die genaue Beschreibung von
Abläufen geprägt und habe durch ihre Authentizität eine hohe
emotionale Kraft entfaltet. Deshalb sei in der Rede auch keine
Spur von „konventioneller Gedenk-Rhetorik“ zu finden. Be-
merkenswert sei es, dass der Redner ganz auf Mahnungen
und Forderungen an die heutigen Menschen verzichtet habe.
Durch die präzisen, anschaulichen Schilderungen sei jeder
selbst in der Lage, die Emotionen der Betroffenen nachzuvoll-
ziehen.
Präziser Bericht statt Gedenk-Rhetorik
Nicht mehr als zwei einleitende Sätze brauchte Reich-Ranicki,
um sein Anliegen anzukündigen: „Ich soll heute hier die Rede
halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des National-
sozialismus. Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern
als ein Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des Warschauer
Gettos.“ Damit verwies der zum Zeitpunkt der Rede 91-Jährige
auf seine Situation als Augenzeuge. Dann begab er sich mit-
ten hinein in die Schilderung einer Szene, die in der Deporta-
tion der Juden aus Warschau kulminierte: „Am 22. Juli fuhren
vor das Hauptgebäude des Judenrates im Warschauer Getto
einige Personenautos vor und zwei Lastwagen mit Soldaten.
Das Haus wurde umstellt. Den Personenwagen entstiegen etwa
fünfzehn SS-Männer, darunter einige höhere Offiziere. Einige
blieben unten, die anderen begaben sich forsch und zügig ins
erste Stockwerk zum Amtszimmer des Obmanns, Adam Czer-
niaków.
Im ganzen Gebäude wurde es schlagartig still, beklemmend
still. Es sollten wohl, vermuteten wir, weitere Geiseln verhaftet
werden. In der Tat erschien auch gleich Czerniakóws Adjutant,
der von Zimmer zu Zimmer lief und dessen Anordnung mit-
teilte: Alle anwesenden Mitglieder des Judenrates hätten sofort
zum Obmann zu kommen. Wenig später kehrte der Adjutant
wieder: Auch alle Abteilungsleiter sollten sich im Amtszimmer
des Obmanns melden. Wir nahmen an, dass für die offenbar
geforderte Zahl von Geiseln nicht mehr genug Mitglieder des
Judenrates (die meisten waren ja schon am Vortag verhaftet
worden) im Haus waren. Kurz darauf kam der Adjutant zum
dritten Mal: Jetzt wurde ich zum Obmann gerufen, jetzt bin
wohl ich an der Reihe, dachte ich mir, die Zahl der Geiseln zu
vervollständigen. Aber ich hatte mich geirrt.“
Einige Absätze später berichtete Reich-Ranicki: „Schon am
ersten Tag der Umsiedlung war es für (den Obmann des Ju-
Foto: J. Macdougall/AFP/Getty Images