04_2012
wirtschaft + weiterbildung
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den demografischen Wandel befürworte
sie lebenslanges Lernen, nicht aber Lern-
zeitkonten. Denn dafür gebe es noch
viele Stolpersteine in den Unternehmen:
Frauen könnten teilweise aufgrund von
Familien- und Pflegezeiten sowie Teil-
zeitjobs weniger sparen als Männer. Und
nicht in jedem Unternehmen würden
Überstunden systematisch gezählt.
Entsprechend selten sind bisher noch
Lang- und Lernzeitkonten in der Praxis.
Das IAB hat zuletzt 2008 Zahlen dazu im
Betriebspanel erhoben. Studienleiter Lutz
Bellmann erklärt: „Nur zwei Prozent der
Betriebe führen Konten mit einer Laufzeit
von über einem Jahr. Von diesen gaben
41 Prozent als möglichen Verwendungs-
zweck Langzeitfreistellungen, 30 Pro-
zent Lebensarbeitszeitverkürzung, 29
Prozent Familien- und Pflegeauszeiten
und 21 Prozent Weiterbildung an. Die
tatsächliche Nutzung konnten wir nicht
erheben.“ Aus einer Online-Umfrage des
Diplom-Soziologen Horan Lee von der
Technischen Universität München unter
335 Betriebsräten geht für das Jahr 2008
hervor, dass die Räte zum Teil fürchten,
dass die Langzeitkonten hart erkämpfte
Betriebsvereinbarungen zur Weiterbil-
dung aufweichen und Mitarbeiter finan-
zielle Einbußen erleiden.
Mit Lernzeitkonten den grund-
legenden Wandel vorantreiben
Dass es aber durchaus eines grundle-
genden Wandels imWeiterbildungssystem
bedarf, erklärt Thomas Bartscher, HR-
Professor an der Hochschule Deggendorf:
„Wir müssen uns fragen, wie Arbeitspha-
sen generell bewirtschaftet werden sol-
len. Es muss nach intensiven Phasen Ent-
schleunigung geben. Gerade Leistungs-
träger disqualifizieren sich schleichend,
wenn sie keine Zeit zur Neuorientierung
haben. Und die Zeit, die man ihnen ge-
währt, muss man auch gewerblich-tech-
nischem Personal geben.“ Sie müssten
lernen, ihr Arbeitsleben vorausschauend
zu planen. Wenn man dies zulasse, stelle
sich die Frage nach Lernzeitkonten von
ganz allein, meint Bartscher.
Und so gibt es auch einige Unternehmen,
die sich an Lernzeitkonten herantrauen:
Bei den Stadtwerken Dinslaken dienen
Lernzeitkonten Mitarbeitern dazu, sich
für private Weiterbildungsinteressen frei-
stellen zu lassen. Sind die Inhalte teil-
weise im Job anwendbar, wird mit Betei-
ligung des Betriebsrats entschieden, wie
viel Guthaben der Mitarbeiter einbringen
sollte. Grundlage für die generelle Bedarfs-
ermittlung ist das jährliche Mitarbeiterge-
spräch.
Um bürokratischen Mehraufwand zu
vermeiden, finanziert der kommunale
Dienstleister Guthaben vor, die der Mit-
arbeiter nach seiner Maßnahme zurück-
zahlt, so Personalleiter Andreas Heinrich.
Die Ausnahme ist jedoch die Aufstiegs-
fortbildung – zum Beispiel Meisterkurse
– welche im Betrieb nicht zwingend not-
wendig sind. Hier bringen Beschäftigte
für rund 1.000 Freistellungsstunden den
Jahresurlaub aus beispielsweise zwei Jah-
ren und aus einem Arbeitszeitguthaben
aus bis zu 250 Überstunden ein.
Eine gesonderte Betriebsvereinbarung
gibt es zu den Konten nicht, meint Hein-
rich. Allerdings hätte sich gezeigt, dass
Führungskräfte inzwischen ihre Guthaben
nicht mehr einlösen, da ihnen schlicht
die Zeit fehle. Bei den gewerblich-tech-
nischen Mitarbeitern sei ein Rückgang
bei der Nutzung der Lernzeitkonten zu
verzeichnen.
Fokus des Instruments auf
bestimmte Mitarbeiter lenken
Beim Prüfungs- und Beratungsunterneh-
men Deloitte dienen Lernzeitkonten Mit-
arbeitern der Sparte Wirtschaftsprüfung
dazu, sich für die Vorbereitung und Prü-
fungen ihrer Berufsexamina freistellen zu
lassen. „Für die wenigen erforderlichen
Wochen müssen sie nicht lang sparen,
zumal Deloitte einen Grundstunden-
satz finanziert, der durch Überstunden
des Mitarbeiters erweiterbar ist. Diesen
Satz handeln wir gerade neu mit der Ge-
schäftsleitung aus“, erklärt Jens Land-
wehr, Manager Human Capital Advisory
Service.
Als Berater kann er zudem berichten, dass
Deloitte aktuell einen Kundenauftrag für
den Aufbau von Lernzeitkonten für Teil-
zeitkräfte vorliegt. Das künftige Modell
soll die Attraktivität der Arbeitsplätze und
Entwicklungschancen steigern. Dies täte
auch im gewerblichen Bereich not, meint
Landwehr. Allerdings seien Mitarbeiter
schwer zu motivieren, weil sie auf jeden
Cent schauen müssten. Eine Möglichkeit
sieht Landwehr trotzdem: Der Abbau von
Überstunden könnte vom Vorgesetzten
zweckgebunden genehmigt werden.
Beim Langzeitkonto auch
für Weiterbildung werben
Das Beispiel des Klinikums Stuttgart wie-
derum zeigt einen sehr praktikablen Weg
auf, der das Ziel des eigenständigen Wei-
terlernens zwar nicht im Fokus hat, aber
es immerhin mitbedacht hat. Das Klini-
kum hat Langzeitkonten für seine 7.000
Mitarbeiter zum 1. Januar 2012 eingeführt
und möchte damit seine Arbeitgeberat-
traktivität erhöhen.
Den Verwendungszweck hat das Klini-
kum zwar offengelassen, aber immerhin
die Option, die Auszeit mit Weiterbildung
zu füllen, an die Mitarbeiter herangetra-
gen: „In unserer Infokampagne haben wir
aber auch ein Fallbeispiel zur Weiterbil-
dung aufgeführt. Ärzte haben ja ohnehin
drei Tage im Jahr und Krankenschwestern
zehn Tage im Jahr Anspruch auf Bildungs-
urlaub. Dieser ist nebst Mehrstunden und
allen anderen Lohnbezügen einbringbar“,
so Schimandl.
Aussetzungen bei der Einzahlung seien
möglich. Mitarbeiter könnten ihr Konto
parallel zur betrieblichen Altersvorsorge
freiwillig führen. Die Mindestentnahme
betrage einen Monat. Bei vorzeitiger
Beendigung des Dienstverhältnisses sei
das Guthaben auf die Deutsche Renten-
versicherung Bund übertragbar. Die In-
solvenzsicherung gestalte sich für den
kommunalen Betrieb weniger brisant, so
Schimandl. Aufgesetzt wurde das Modell
mit einem externen Berater.
Welches ein gangbarer Weg ist, der die
praktischen und gesetzlichen Hürden
überwindet, muss jedes Unternehmen
also – wie so oft – für sich selbst ent-
scheiden. Die positiven Beispiele zeigen,
dass das Lernzeitkonto als Instrument im
lebenslangen Lernen durchaus nützlich
sein kann. Schließlich ist es ein starkes
Symbol, mit dem Unternehmen sich at-
traktiver machen und zeigen, dass ihnen
an der beständigen Fortbildung der Mit-
arbeiter gelegen ist – auch außerhalb des
Korsetts von Pflichtseminaren.
Stefanie Heine