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RECHT
_ARBEITSZEUGNIS
personalmagazin 01 / 15
D
as Arbeitszeugnis an sich
ist ein merkwürdiges Doku-
ment. Bereits die verwende-
te Sprache ist eigentümlich,
manchmal gar originell. Nicht selten
formulieren Personaler Sachverhalte in
wohlklingenden Begriffen, die der un-
bedarfte Leser selbst bei kühner Aus-
legung der Worte nicht vermutet hätte.
Eigentümlich ist auch die zusammen-
fassende Leistungsbewertung, auf die
Zeugnisprofis meist den ersten Blick
richten: War der Arbeitgeber mit der
Leistung des Mitarbeiters nicht immer
ganz zufrieden, schreibt er „zur vollen
Von
Michael Miller
(Red.)
Zufriedenheit“. Übertragen in das schu-
lische Notensystem bedeutet dies durch-
schnittlich, befriedigend, Note 3. War er
dagegen voll zufrieden – und das durch-
weg – notiert er „stets zur vollen Zufrie-
denheit“ (Note 2) in das Zeugnis. Ist die
Arbeitleistung voller als voll, also quasi
überquellend, wird sie mit „stets zur
vollsten Zufriedenheit“ bewertet, was in
der Schule einem „sehr gut“ entspräche.
Die auf den ersten Blick verwunder-
lichen Formulierungen spiegeln auch
den Spagat, den Zeugnisautoren vollfüh-
ren müssen. Denn rechtliche Vorgaben
zwingen sie dazu, das Zeugnis gleichzei-
tig wahrheitsgemäß und wohlwollend zu
formulieren. Der Arbeitgeber soll nicht
verbal nachtreten und so dem schei-
denden Arbeitnehmer unnötig Steine in
den Weg legen. Daher gilt: Wahrheit ja,
aber bitte so freundlich wie möglich.
Dass viele Arbeitgeber eher wohlwol-
lend mit diesem Zwiespalt umgehen,
legt eine Untersuchung der Universität
Erlangen-Nürnberg nahe. Die Wissen-
schaftler hatten etwa 800 Arbeitszeug-
nisse der Branchen Dienstleistung,
Handel, Handwerk und Industrie aus-
gewertet und festgestellt: Die Leistungs-
bewertung in ungefähr 38 Prozent der
Arbeitszeugnisse entsprechen der Note
1 oder 1,5 des üblichen Notensystems
und gut 48 Prozent der Note 2 oder 2,5.
Arbeitszeugnisse mit der Note 4 (0,6 Pro-
zent) oder schlechter (0,5 Prozent) stel-
len Arbeitgeber quasi nicht aus.
Wichtige Frage nach der Beweislast
Es kann nur spekuliert werden, wes-
halb die Ergebnisse so ausgefallen sind:
Eventuell nehmen es Unternehmen mit
der Wahrheit nicht immer ganz genau
und greifen zur besseren Gesamtno-
te, um der Klage eines unzufriedenen
Ex-Arbeitnehmers
zuvorzukommen.
Allerdings scheinen Arbeitsgerichte re-
gelmäßig über Inhalt oder Form der Be-
urteilungen zu richten. Schließlich hat
sich das BAG bereits mit beinahe allen
Befriedigend bleibt Durchschnitt
URTEIL.
Auch wenn Arbeitgeber vermehrt gute Zeugnisse ausstellen, bleibt das BAG
dabei: Der Schnitt ist die Note 3, bessere Bewertungen müssen Beschäftigte beweisen.
Zwischen Wahrheit und wohlwollender Beurteilung: der Spagat beim Arbeitszeugnis.
CHECKLISTE
In der App finden Sie eine Checkliste
zur Bewertung der Kernaussagen eines
Arbeitszeugnisses.
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