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Bei Fragen wenden Sie sich bit te an
RECHT
_MINDESTLOHN
D
as hat die Juristen im Perso-
nalrecht schon immer mächtig
gewurmt: Sobald Streitfragen
im Lohnsteuer- oder Sozialver-
sicherungsrecht zu lösen sind, ist Schluss
mit dem mühsam erlernten juristischen
Handwerkszeug. Statt Rechtsgrundlagen
zu sichten und aufgrund von Kommen-
taren und Gerichtsentscheidungen zu
einem vertretbaren Ergebnis zu kommen,
reduziert sich in Sachen Lohnsteuer und
Sozialversicherung die Falllösung auf die
Frage: „Was sagt denn die Verwaltung
dazu?“ So macht sich in lohnsteuerrecht-
lichen Fragen niemand mehr die Mühe
in der Gesetzesgrundlage, sprich dem
Einkommensteuergesetz, nach einer Lö-
sung zu suchen. Vielmehr gilt der erste
Blick den Lohnsteuerrichtlinien. Diese
sind zwar nichts anderes als die nieder-
geschriebene Meinung vonMinisterialbe-
amten. Allerdings sind es die Ansichten,
nach denen man sich tunlichst ausrichtet,
um keinen Streit heraufzubeschwören.
Die Macht der Verwaltungsmeinung
Noch ein Stück abenteuerlicher geht es
im Beitragsrecht der Sozialversicherung
zu. Hier muss sich der Blick des Prak-
tikers meist weg vom Gesetz direkt auf
eine äußerst fragwürdige Rechtsquelle
richten: den „Besprechungsergebnissen
der Spitzenorganisationen der Sozialver-
sicherung“. Hier gilt zunächst wie bei
den Lohnsteuerrichtlinien: Es ist ledig-
lich die Wiedergabe einer Verwaltungs-
meinung, zudem noch in Form eines
ausgearbeiteten
„Sitzungsprotokolls“.
Von
Thomas Muschiol
Aber auch hier gilt die Macht des Fakti-
schen. Und da man im Kampf gegen eine
Verwaltungsmeinung langen Atem be-
weisen muss, wird das Binnenrecht der
Verwaltung zähneknirschend akzeptiert.
Aber da gibt es ja noch das Arbeits-
recht, zum Glück noch mit der klas-
sischen Streitlösung auf Augenhöhe.
Erst die Klärung vor dem Arbeitsgericht
entscheidet, welche Auslegung die rich-
tige ist. Seit Jahresanfang ist jedoch eine
Korrektur angebracht: Mit dem Inkraft-
treten des Mindestlohngesetzes existiert
jetzt auch im Arbeitsrecht ein Bereich,
bei dem sich der Personaler wohl oder
übel faktisch an einer Behördenmeinung
ausrichtenmuss. So wie Lohnsteuer- und
Sozialversicherungsprüfer in Rechtsfra-
gen der Abgabenerhebung ihre behörd-
lichen Auslegungsvarianten anwenden,
werden jetzt selbstverständlich auch die
Zollbeamten ihrenMindestlohnentschei-
dungen ihre behördliche Auslegungsver-
sion zugrunde legen.
Allerdings: Bei Behördenentscheidun-
gen bleibt ja dennoch der Weg zu den
Gerichten, oder? Richtig: Wie auch im
Lohnsteuer- und Sozialversicherungs-
recht, kann der Praktiker auch gegen eine
arbeitsrechtliche Behördenmeinung an-
gehen. Allerdings nicht bei den Gerichten,
die dazu spezielle Fachleute vorhalten.
Anders als bei Beitrags- und Steuerfragen,
bei denen die Sozial- und Finanzgerichte
entscheiden, sind bei arbeitsrechtlicher
Behördenmeinung der Zollverwaltung
leider nicht die Arbeitsgerichte zur Über-
prüfung vorgesehen. Hier bleibt nur der
Weg, über den Einspruch gegen Bußgeld-
bescheide die Amtsgerichte anzurufen.
Man darf gespannt sein, wie diese künftig
mit diffizilen arbeitsrechtlichen Mindest-
lohnfragen umgehen werden.
Normative Kraft des Faktischen
MEINUNG.
Das Mindestlohngesetz führt in das Arbeitsrecht eine wichtige Komponente
aus dem Lohnsteuer- und Sozialversicherungsrecht ein: die Verwaltungsmeinung.
Verwaltungs-
meinung: Künf-
tig wird diese
Ansicht auch
im Arbeitsrecht
wichtiger.
THOMAS MUSCHIOL
ist Rechtsanwalt mit
Schwerpunkt im Arbeitsrecht und betriebli-
chen Sozialversicherungsrecht in Freiburg.
© MICHAEL BAMBERGER